Erben der Macht
wahr. Er fühlte sich nicht nur außerhalb der Welt, sondern hatte das Gefühl, fremd in seinem eigenen Körper zu sein. Als wäre seine Seele tot. Seit der Dämon ihn vor fünf Tagen von den Toten zurückgeholt und in seinem Haus abgeladen hatte, versuchte Clive, ins Leben zurückzufinden. Sich lebendig zu fühlen. Es gelang ihm nicht. Er hatte das Gefühl, ein lebender Toter zu sein, der sich zwar in dieser Welt aufhielt, aber nicht mehr zu ihr gehörte.
Genau genommen traf das zu. Er war gestorben und hatte die Pforte zum Jenseits gesehen. Das Tor zur Hölle. Er hatte zwar keine Ahnung, wie lange er real tot gewesen war, doch an dem Ort, zu dem er gelangt war, hatte er lange genug bleiben müssen, um nicht nur eine geballte Rückschau über alle seine Taten zu erleben, die er in diesem Leben begangen hatte – die guten wie die schlechten –, sondern auch die aus allen früheren Inkarnationen. Sie hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt in einer Weise, dass er sie nie wieder vergessen würde.
Besonders der gravierende Fehler, den er zweimal begangen hatte, dass er Marlandra/Bronwyn und Maruyandru/Devlin nicht zugetraut hatte, das Wohl der Menschen im Sinn zu haben statt ihres eigenen. Es war für sie alle und erst recht für ihn selbst erheblich leichter gewesen, auf die Vorurteile zu vertrauen, dass jedes Lebewesen, das dämonisches Blut in sich trug, selbstverständlich auf der Seite der Dämonen stand. Er hatte sich nicht im Traum vorstellen können, dass die Liebe und das aus ihr geborene Mitgefühl wirklich so stark sein konnte, dass sie nicht nur die dämonischen Instinkte und finsteren Veranlagungen zurückwies, sondern in einer selbst unter Menschen seltenen absoluten Opferbereitschaft gipfelte. Dabei hätte er als geborener und reinblütiger Mensch das besser wissen müssen als halbe Dämonen.
Statt beim ersten Mal daraus zu lernen, hatte er denselben Fehler ein zweites Mal begangen. Die Ausrede, dass er sich bewusst nicht an die Fehler seiner früheren Leben erinnern konnte, zählte nicht. Was man in einem Leben einmal aus eigener Erkenntnis und Überzeugung verinnerlicht hat, vergisst man auch in allen künftigen Inkarnationen nicht mehr. Es bleibt als Charakterzug oder anderweitig in der Seele verankerte Einstellung erhalten, sofern es nicht durch eine neue Erkenntnis ersetzt wird.
Clive hatte damals einfach nicht daraus gelernt. Vielmehr hatte er sich hinter der falschen Überzeugung verschanzt, dass Marlandra gelogen hatte, als sie behauptete, dass sie und Maruyandru geplant hätten, das Eine Tor zu versiegeln, statt es für die Dämonen zu öffnen. Was war er für ein Narr gewesen! Bei seinem Aufenthalt an der Pforte der Hölle hatte er gesehen, wie viele Tote dadurch auf sein Konto gingen; direkt wie indirekt. Bei Cernunnos, der Dämon Gressyl hätte ihn endgültig sterben lassen sollen. Er hatte die Hölle, die auf ihn wartete, verdient. Tausendfach. Und auf die Dauer würde er ihr nicht entkommen. Bis dahin musste er in der Hölle seines schlechten Gewissens schmoren.
Er wandte sich vom Spiegel ab und verließ das Badezimmer. Goss sich einen Whisky ein, obwohl es zum Trinken noch viel zu früh war. Er hatte noch nicht mal gefrühstückt. Doch der Whisky schmeckte ihm nicht, weshalb er den Rest aus dem Glas wieder in die Flasche zurückgoss. Er verzichtete auf den Versuch, mit einem der anderen Hüter der Waage Kontakt aufzunehmen, die das Desaster in der Py’ashk’hu-Residenz überlebt hatten. Was hätte er ihnen sagen, was mit ihnen besprechen sollen? Abgesehen davon hatte sich auch niemand bei ihm gemeldet. Das wunderte ihn nicht. Sicherlich waren sie genauso geschockt von den Ereignissen wie er.
Er zuckte zusammen, als er hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Es gab nur einen Menschen, der einen Schlüssel zu seinem Haus besaß. Sekunden später stand Zaphira in der Wohnzimmertür. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus, als sie Clive im Sessel sitzen sah. Ungefähr eine halbe Minute starrte sie ihn mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. Schließlich machte sie einen zögernden Schritt auf ihn zu.
„C-Clive? B-Bist du das wirklich?“
Er nickte. „Abgesehen davon, dass ich mich wie ein Zombie fühle, glaube ich schon.“ Sogar seine Stimme klang fremd. Kein Wunder; dies waren die ersten Worte, die er seit fünf Tagen gesprochen hatte.
Zaphira stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung aus Wimmern und Schluchzen klang , und warf sich ihm in die Arme. Sie
Weitere Kostenlose Bücher