Erben der Macht
Freund. Es ist deine Seele. Sie wurde dir zwar damals aufgezwungen, aber ich habe gesehen – erlebt, wie stark sie mit dir verbunden gewesen ist. Wenn ich mich nicht irre, wirst du erst vollkommen ganz sein, wenn sie wieder mit dir vereint ist. Ich hoffe zumindest, dass sie nicht in den vergangenen Jahrtausenden wahnsinnig geworden ist.“
„Das ist sie nicht“, sagte Warren. „Wir Wächterdämonen können Wahnsinn in einer Seele riechen. Diese ist bei vollem Verstand und“, er blickte den Flakon mit schräg gelegtem Kopf intensiv an, „nicht feindselig.“
Gressyl nahm den Flakon. „Na dann.“ Er tat einen tiefen Atemzug und öffnete ihn.
Als hätte die Seele nur darauf gewartet, flog sie heraus und drang in Gressyls Stirn ein. Er zuckte zusammen, stöhnte und presste die Hände gegen den Kopf. Sekunden später ließ er sie sinken, atmete tief durch und blickte sich um. Sah seine Hände an, drehte sie hin und her, ballte sie und öffnete sie wieder. Dann sah er Bronwyn an und lächelte in einer Weise, wie er das noch nie getan hatte.
„Marlandra.“
„Bist du – Gressyl?“
Er nickte. „Gressyl. Und endlich wieder vollständig.“ Er nickte wieder. „Jetzt begreife ich, was Kashyapa gemeint hat, als er sagte, dass ich in der Residenz der Ke’tarr’ha finden werde, was mir gehört, das mir einst entrissen wurde. Eine meinte die – meine Seele.“ Er blickte ein paar Sekunden ins Leere. „Ich glaube, das ist eine sehr weise Seele.“ Er sah Bronwyn an. „Danke, dass du sie gerettet und für mich aufbewahrt hast.“
Ehe jemand ihn daran hindern konnte, nahm er sie in die Arm e und küsste sie.
„Hey!“, knurrte Devlin und packte seinen Arm.
Gressyl lächelte beruhigend. „Keine Sorge, Maru. Ich nehme sie dir nicht weg. Das könnte ich sowieso nicht, weil ihr seelenverbunden seid. Der Kuss war nur ein Ausdruck meiner tief empfundenen Dankbarkeit.“
Bronwyn lächelte. „Jetzt weiß ich, dass du keine Lektionen in Zärtlichkeit mehr brauchst. Allenfalls noch ein bisschen praktische Übung.“
„Aber mit jemand anderem“, betonte Devlin. Nach allem, was der beseelte Gressyl in der Vergangenheit wegen seiner Liebe zu Marlandra angerichtet hatte, traute er ihm in diesem Punkt nicht allzu weit. Dass er Maruyandru umgebracht hatte, machte ihn Devlin nicht sympathischer. Bruder oder nicht. Und durch seine wiedererlangte Seele konnte seine frühere Liebe zu Marlandra durchaus wieder aufflammen.
Bronwyn seufzte. „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin am Verhungern. Und ich habe keine Ahnung, was zuletzt eigentlich passiert ist.“
„Genau“, stimmte Devlin ihr zu. „Ihr drei, Gressyl, Warren, Nalin, habt uns noch ein paar Dinge zu erklären.“
Sie gingen nach oben. Bronwyn beauftragte die Dienergeister, ihnen ausnahmsweise magisch den Tisch zu decken und verschlang ebenso wie Devlin und Gressyl eine riesige Portion Nahrung, von der sie kaum mitbekam, was sie eigentlich aß. Danach fühlte sie sich erheblich besser. Den Rest zu ihrem Wohlbefinden würde n ein Bad und eine Mütze voll Schlaf beitragen. Doch vorher musste sie unbedingt noch ein paar Dinge erfahren.
Das war auch Devlin ein Bedürfnis. Deshalb setzten sie sich zusammen mit Gressyl, Nalin und Warren ins Wohnzimmer.
Bronwyn blickte von einem zum anderen. „Hat einer von euch eine Erklärung dafür, warum Devlin und ich plötzlich von dem Spiegel quasi eingesogen wurden? Wieso erst beim zweiten Mal und nicht schon, als wir beobachtet haben, wie Mokaryon, Reya und Konsorten damals durch das Tor in diese Welt gekommen sind?“
„Weil ihr damals noch nicht geboren wart“, erklärte Gressyl. „Es hat mit euren Seelen zu tun. Die von damals und die von heute sind identisch – dieselben Seelen, die in neuen Körpern wiedergeboren wurden. Ich dagegen bin immer noch körperlich derselbe Gressyl wie damals.“
„Und?“, hakte Devlin nach, als Gressyl schwieg. „Mir entgeht der Zusammenhang.“
„Dadurch, dass wir den Spiegel aktiviert haben, wurde eine direkte magische Verbindung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hergestellt. Die Theorie der Menschen, dass dieselbe Person körperlich nicht zweimal in derselben Zeit existieren kann, also einmal als das zu der betreffenden Zeit gehörende Individuum , und einmal als sein Alter Ego aus einer anderen Zeit, stimmt so nicht. Das ist durchaus möglich. Aber das trifft nicht auf dieselbe Seele zu.“ Er blickte von Devlin zu Bronwyn, die ihn beide
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