Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
hängen.«
Madeleine entfernte sich, bis sie außer Hörweite war.
»Wo willst du hin?«, rief John hinter ihr her.
»Ich gehe meine Sachen packen. Ich fahre nach London.«
»Nun sei doch nicht verrückt! Um diese Zeit fährt halb England nach London. Die M4 und die M5 sind ein Alptraum, völlig überfüllt von verkaterten Autofahrern. Die Staus …«
»Es reicht, John«, unterbrach ihn Angus wütend. Dann zeigte er mit seinem kurzen, dicken Zeigefinger auf Madeleine: »Erst eine kalte Dusche, anschließend ein gutes Mittagessen und danach, verehrte Dame, machen Sie sich besser vom Acker.«
Brutus, der kleine Yorkshireterrier, sprang auf Madeleines Schoß. Seit neun Jahren kannten sie sich und verstanden sich prächtig. Im Haus ihres Vaters gab ihr niemand so überschwängliche Küsse wie er. Mit seiner rauen Zunge leckte er ihr die Hände ab.
»Du hast abgenommen, Madeleine«, sagte Elizabeth streng, die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich habe dir schon mehr als einmal gesagt, dass eine Frau über vierzig sich zwischen Figur und Gesicht entscheiden muss.« Sie machte eine Geste in Richtung Küche. »Soll ich dir ein Sandwich machen?«
»Hör mit dem Theater auf«, unterbrach sie Neville scharf. »Ihr ist nicht nach Sandwich.«
Verwundert sah Madeleine ihn an. Es passte nicht zu ihm, so mit Elizabeth umzuspringen. »He! Neville! Ich kann für mich selbst sprechen.«
»Hol dem Mädchen etwas zu trinken«, befahl ihr Vater. »Sie braucht einen Drink.«
»Da bin ich mir nicht sicher, Neville!«, protestierte Madeleine. »Vergiss nicht, dass ich mit dem Auto nach Bath zurückfahren muss.«
»Na und? Bleib zum Essen hier.« Er schnalzte mit seinen kräftigen Fingern, als wollte er sein Gedächtnis auf Vordermann bringen. »Worauf hast du Lust?«
Mit einem Seufzer wandte sich Madeleine zu ihrer Stiefmutter. »Ein sehr großer Wodka mit einem Spritzer Tonic wäre großartig, Elizabeth. Danke.«
Elizabeth sah aus wie das blühende Leben. Sie wirkte um Jahre jünger als zweiundfünfzig. Ihre vollschlanke Figur war der Beweis, dass sie nach der Maxime lebte, die sie soeben von sich gegeben hatte. Ihr Gesicht wies keinerlei Falten auf.
Sie saßen in dem geräumigen Wohnzimmer von Nevilles eleganter Wohnung in der Pont Street. Sonnenlicht flutete durch die hohen Fenster des vierten Stockwerks. Der Turm von St. Columbia schmückte die vordere Aussicht; nach hinten konnte man den Anblick von Harrod’s genießen. Neville hätte sich ein ganzes herrschaftliches Haus in London leisten können, so erfolgreich war seine Retrospektive gewesen, aber das Paar fühlte sich heimisch in dem Apartment, das es seit über zwanzig Jahren bewohnte. Nichts liebte der alte Snob Neville mehr als den Klang seiner Adresse. In seinen Augen sagte sie alles über ihn aus: Er hatte es zu Ehre, Ruhm und Reichtum gebracht. Seine Egozentrik hinderte ihn zu verstehen, warum seine Adresse die alten Künstlerfreunde vertrieben hatte; in ihrem Fernbleiben sah er nur den blanken Neid.
Unruhig rutschte Madeleine auf dem Sofa hin und her, dann glättete sie die Wildlederkissen. Sie wäre am liebsten mit der Tür ins Haus gefallen, aber sie spürte, dass etwas in der Luft lag. Sie wandte sich ungeduldig nach Elizabeth um. Warum brauchte sie so lange, um ein paar Drinks zu mixen?
»Woran arbeitest du im Augenblick, Neville?«, fragte sie, um die Zeit zu überbrücken.
Nevilles wuchtige Figur quoll aus seinem dänischen Designersessel. Seine wilde graue Mähne glänzte im Sonnenlicht.
»Ich gönne mir eine wohlverdiente Pause«, beantwortete er ihre Frage und glättete seinen Spitzbart mit einstudierter Nonchalance. »Ich denke in aller Ruhe darüber nach, welchen Weg ich nun einschlagen soll. Ich überlege, ob ich mich nicht einmal an Keramik versuchen sollte.«
Madeleine starrte ihn an und brach dann in lautes Gelächter aus. »Keramik?«
Stille legte sich über den Raum. Madeleine warf einen kurzen Blick zu Elizabeth hinüber, die endlich mit einem Tablett aus der Küche kam. Sie gab Madeleine ein Zeichen mit den Augen, als wollte sie ihr etwas sagen, aber Madeleine war zu verblüfft, um es wahrzunehmen.
»Kannst du das noch einmal für mich wiederholen, Neville?«
»Warum sollte ich mich ausgerechnet mit dir darüber unterhalten«, brauste er auf. »Du bist schließlich keine Künstlerin, sondern ein verdammter Seelenklempner.«
Das war zwar ein wenig scharf, ging es ihr durch den Kopf, aber kein schlechtes Stichwort, um zum
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