Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Berg mächtiger Gesteinsbrocken. Sie brachen seitlich durch Brombeerranken und Gesträuch und standen schließlich auf dem kahlen Moor in der hellen Sonne. Vor ihnen lag bis zum Horizont unberührtes Land. Sie sahen weit und breit kein Haus, keine Scheune, keine Straße. Nur einige öde, von Felsen gekrönte kleine Hügel unterbrachen die karge Landschaft.
»Meinst du nicht, dass wir besser umkehren sollten?«, fragte John, Schweißperlen auf der Stirn.
»Ach, nun wirf nicht gleich das Handtuch, John. Wir müssen doch die Exzesse der vergangenen Nacht abarbeiten.«
Sie wanderten weiter, überquerten sumpfige Stellen und stiegen über Reste uralter Trockenmauern. Das Moor schien endlos zu sein. Weder Kuh noch Schaf zeigten an, dass hier irgendwo Menschen lebten. Selbst Vögel schienen in dieser Gegend rar zu sein. Sie hatten das Gefühl, sich in einer anderen Zeit, in einem anderen Jahrhundert zu befinden.
»Wir stoßen mit Sicherheit irgendwann auf eine Schar fröhlicher Wanderer«, meinte John, wobei er den Horizont absuchte, die Hand zum Schutz gegen die Sonne über die Augen gelegt. »Die sind so verrückt, diese Einöde zu lieben.«
Wieder stiegen plötzlich Nebelschwaden aus dem Nichts empor, legten sich über das Land, und binnen weniger Minuten konnten sie keine fünf Meter weit sehen. Auf gut Glück wanderten sie weiter, bis sie auf einmal das Ende eines Feldwegs erreichten. Moos und Gras überwucherten die Spuren, als wäre das letzte Fahrzeug vor Monaten oder Jahren hier gewesen. Da sie mittlerweile sowieso jegliche Orientierung verloren hatten, kamen sie überein, dem Weg zu folgen und abzuwarten, wohin er sie führen würde.
Sie wurden allmählich durstig, und dummerweise hatten sie versäumt, eine Flasche Wasser mitzunehmen. Madeleine wusste, dass es gegen zehn Uhr sein musste und sie also schon über zwei Stunden unterwegs waren. Rosaria hatte ihr beigebracht, den Sonnenstand einzuschätzen, denn der war wichtig bei der Verehrung ihrer Orischas.
John sah besorgt aus. Sie stupste ihn leicht in die Seite.
»Genieß es, die Zivilisation kann nicht sehr weit sein.«
»Zivilisation? Du kennst diese Gegend offensichtlich nicht! In diesen Mooren verirren sich immer wieder Leute und sterben. Manchmal dauert es Jahre, bis man sie findet.« Er hakte sich bei ihr unter und tätschelte ihr die Hand. »Da fällt mir übrigens ein, hier kann uns niemand belauschen. Nun pack mal aus – was ist das für eine Sache, die du mir nicht gestanden hast?«
»Ich habe schon die ganze Zeit Angst, dass du mich danach fragst. Ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll und wie du reagieren wirst.«
»Du liebe Güte! So schlimm wird es doch wohl nicht sein?«
Sie lachte. »Das klingt nicht gerade professionell.«
»Raus damit, Madeleine.«
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Du weißt doch von der Frau, die zu mir kommt, die mit dem schrecklichen Russen oder Ukrainer, der im Afghanistankrieg war und sie auf den Strich geschickt hat?«
»Ja. Die Frau mit der sexuellen Obsession?«
Madeleine hatte gerade tief durchatmen wollen, hielt aber bei seinen Worten auf halber Strecke inne. »Es besteht die Möglichkeit, dass sie meine Tochter ist.«
John blieb stehen und sah sie an. »Aber du hast doch gar keine Tochter.«
»Doch, John. Mit sechzehn habe ich eine Tochter bekommen. Es war ein Kind der Liebe, zumindest für mich, aber auf Drängen meiner Eltern überließ ich das kleine Mädchen meiner Mutter. Rosaria hing so sehr an der Kleinen, dass ich es nicht übers Herz brachte, mich zwischen sie zu stellen. Ich bin dann zurück nach Key West gegangen, um dort die Kunstakademie zu besuchen. Die beiden zu verlassen, war der größte Fehler meines Lebens. Fünf Jahre später wurde Rosaria eingewiesen, und man zwang mich, meine Tochter zur Adoption freizugeben.«
John starrte sie an. »Das ist verrückt! Du hast mir nie etwas davon erzählt.«
»Ich weiß, und es tut mir sehr, sehr leid, dass ich es dir verschwiegen habe.«
Schockiert und ungläubig schüttelte er den Kopf. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Eine ganze Weile verging, und sie fragte sich schon, ob er ihr wohl jemals verzeihen würde. Aus Verzweiflung packte sie ihn schließlich am Arm und zog ihn mit sich fort. Er sagte noch immer kein Wort, sondern lief wie betäubt neben ihr her. Sie schwieg ebenfalls, da sie sich dessen bewusst war, dass er Zeit brauchte, diesen Blitz aus heiterem Himmel zu verdauen, den großen Verrat, den sie an ihm
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