Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Gegenschlag auszuholen. »Der große Neville Frank töpfert Kaffeebecher«, sagte sie laut. »Na, das hätte ich mir nie träumen lassen.«
Neville reagierte nicht. Stattdessen tauschte er einen Blick mit Elizabeth. Irgendetwas ist hier los, dachte Madeleine. Neville hob das Rotweinglas mit seiner Tatze und leerte es in einem Zug, als wäre es ein Fingerhut.
War es möglich … Sie war so mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt, dass sie einfach nicht nachgedacht hatte. Ihr Vater war neunundsiebzig. Über ein halbes Jahrhundert lang war er in Hochform gewesen, hatte zunächst Porträts gemalt, dann wilde Tiere und Landschaften, und sich dabei auf beiden Seiten des Atlantiks Ruhm und Ehre erworben. Wenn sie ihn nun genau betrachtete, konnte sie es sehen: Er war alt geworden. Müde, ausgebrannt. Selbst für Künstler musste es wohl so etwas wie einen Ruhestand geben. Vielleicht hatte er diesen Punkt erreicht, war aber zu stolz, um es zuzugeben. Es konnte sein, dass die Qualität seiner Bilder nachgelassen hatte. Wenn sie es sich genau überlegte, waren die letzten paar Bilder, irgendwelche blütenähnlichen Formen, eigentümlich anders als die sorgfältig ausgeführten Arbeiten früherer Jahre gewesen und hatten gar nicht seinem Niveau entsprochen. Konnte die Retrospektive ungewollt ein Signal für das Ende seiner Karriere gewesen sein, für ihn wie auch für die Öffentlichkeit, die Käufer und Sammler seiner Gemälde? Vielleicht hatte sein Agent ihm geraten, Schluss zu machen, solange er alle anderen überragte. Der Wert seiner Arbeiten würde damit mit Sicherheit noch weiter in die Höhe getrieben.
Spontan sprang Madeleine auf und legte die Arme um den massigen Kopf ihres Vaters.
»Neville, ich finde, das mit der Keramik ist eine großartige Idee. Ich mache dir nur das Leben schwer, weil du das von mir erwartest.« Sie beugte sich vor und sah ihm in die Augen. »Wir müssen einander in Fragen Kunst auf besagtem schmalem Pfad halten. Stimmt doch, nicht wahr, alter Knabe?«
»Lass den Scheiß.« Neville schüttelte den Kopf, um sich von ihren Händen zu befreien. »Tu nicht so gönnerhaft. Von Keramik hast du sowieso keine Ahnung.«
Ernüchtert setzte sich Madeleine wieder auf die Couch und nahm einen kleinen Schluck von dem Drink auf dem Beistelltischchen. Sie kannte sich sehr wohl mit Keramik aus und hatte schon das eine oder andere Stück erworben. Doch Neville hatte nur herablassend geschnauft und ihre Käufe mit einem flüchtigen Blick bedacht, als Madeleine sie ihm zeigte. Aber schließlich hatte jeder Mensch das Recht, seine Meinung zu ändern und neue Interessen zu entwickeln. Es würde ihm guttun.
Neville griff nach der Fernbedienung auf dem Couchtisch und stellte den Fernseher an. Madeleine runzelte die Stirn. Sie hatte selten erlebt, dass er fernsah, mit Sicherheit nie, wenn er Besuch hatte. Nun wechselte er von einem Kanal auf den anderen, den Blick auf die Kiste geheftet, und hielt mit der freien Hand Elizabeth sein Rotweinglas hin. Die stand brav auf und füllte es wieder mit Wein aus der Flasche auf dem Tisch.
Madeleines Verwirrung nahm zu. Neville war exzentrisch und streitsüchtig und führte sich auch häufig wie ein Ekel auf, aber in den vergangenen zwanzig Jahren seiner Ehe hatte er Elizabeth nicht nur respektvoll behandelt, sondern sogar verehrt. Er war sehr geschmeichelt gewesen, eine Frau gefunden zu haben, die so viel jünger war als er, sogar noch jünger als Rosaria, und zudem die Tochter eines waschechten britischen Aristokraten. Elizabeth teilte seine Interessen – sie liebte Alkoholisches, erlesene Speisen, schöne Kleidung, schätzte das Dolce Vita, das er ihr bieten konnte, war jederzeit vorzeigbar und sprach dieselbe Sprache wie er (Rosaria erfüllte keine dieser Eigenschaften). Es war einfach nicht vorstellbar, dass er ihr gegenüber auf einmal diese gebieterische Lässigkeit für angemessen hielt.
Madeleine sah Elizabeth mit zusammengekniffenen Augen an. Elizabeth schüttelte leise den Kopf, als Neville schließlich eine Seifenoper gefunden hatte. Madeleines Verblüffung wich allmählich einer gewissen Verärgerung. Hier herrschte nun also dicke Luft, nur weil sie etwas Falsches gesagt hatte? Er würde die beleidigte Leberwurst spielen, bis er genug Wein intus hatte, dann würde sich seine Stimmung aufhellen, worauf alle ihm zuliebe sofort in Partystimmung sein mussten. In dieser Hinsicht hatte sich nichts geändert. Stets und ständig hatte sich alles um Neville gedreht, um
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