Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
begangen hatte. Sie kannten einander seit über sieben Jahren. Mit Sicherheit war er der beste Freund, den sie je hatte. Schon häufig hatte sie sich gefragt, warum sie ihm diese entscheidenden Ereignisse ihres Lebens vorenthalten hatte, und jedes Mal lautete die Antwort: aus Scham … Sie wollte den Tatsachen nicht ins Auge sehen.
Sie konnte sich vorstellen, was in ihm vorging. Ganz davon abgesehen, dass sie als Freundin versagt hatte, unaufrichtig gewesen war und geheuchelt hatte, fragte er sich gewiss, was sie als Psychoanalytikerin taugen mochte. Es wurde erwartet, dass sich die Studenten in den vier langen Ausbildungsjahren eingehend mit ihrer eigenen Psyche befassten, einen Prozess der Selbstfindung durchmachten, die dunkelsten Winkel der eigenen Seele ausleuchteten. Alle anderen hatten diesen schwierigen Weg auf sich genommen, der eine unabdingbare Voraussetzung für jeden war, der andere Menschen auf ihrer Suche nach Einsicht und Wachstum verstehen und leiten wollte. Nur sie war nicht offen gewesen, hatte die Wahrheit verschwiegen.
»Ich weiß, was du denkst.«
»Du hast nicht die leiseste Ahnung, Madeleine«, versetzte er barsch.
»Ich brauche deine Hilfe. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Um festzustellen, ob mein Verdacht stimmt, müsste ich der Patientin eine ganze Reihe von Fragen stellen. Ich weiß nicht, ob sich das mit unserer Berufsethik vereinbaren lässt. Ich weiß auch nicht, wie ich sie fragen soll, was ich sie fragen soll oder ob ich sie überhaupt fragen soll. Auf jeden Fall scheint sie etwas geahnt zu haben, denn sie hat sich nicht wieder blicken lassen. Hat die Sitzung nicht telefonisch abgesagt und hat sich auch sonst nicht mehr gemeldet.«
»Herr im Himmel«, unterbrach John sie, sprach aber nicht weiter.
Sie wanderten schweigend durch den Nebel. Der Feldweg führte anscheinend in einem großen Bogen nach Westen.
»Lass uns eine kurze Pause machen«, meinte John nach einer Weile, entfernte sich einige Schritte vom Weg und ließ sich auf die karge Heide fallen.
Sie setzte sich neben ihn, aber er wandte den Blick ab, anscheinend in Gedanken versunken. Sie schob das Gras zu ihren Füßen beiseite und suchte nach Lasius flavus. Sie waren unter den struppigen Grasbüscheln der Moore zu Hause, wagten sich aber nur sehr selten hinauf ans Tageslicht. Sie war beeindruckt von den hübschen gelben Tieren, die so raffinierte Nester bauten. Ihre Gänge verstärkten sie mit lebenden Wurzeln und Trieben, die sie mit ihren Exkrementen düngten. Sie hatte einmal ein solches Erdnest von innen gemalt, ein leuchtendes, halb abstraktes Werk von riesigen Ausmaßen, das ein japanischer Sammler sozusagen von der Staffelei weg erworben hatte.
John nahm seine Brille ab und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Einen Moment später wandte er sich ihr zu. Sie brach ihre sinnlose Suche nach den Ameisen ab und blickte zu ihm hoch. Beim Anblick seines Gesichtsausdrucks sank ihr das Herz.
»Deine Frage übersteigt meine Kenntnisse, Madeleine. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was man in einem solchen Fall tut. Du musst dir jemanden suchen, der viele Jahre Erfahrung hat. Jemand, der unparteiisch ist.«
»Nun sag doch so etwas nicht«, rief sie aus. »Vergiss, dass du Therapeut bist. Hilf mir als Freund.«
»Für dich tue ich alles, Madeleine. Wir können als Freunde über die Sache sprechen. Nur, als dein ›bester Freund‹ muss ich dich fragen, warum du mir gegenüber geschwiegen hast. Ich bin wütend, Madeleine, enttäuscht, verwirrt, aber vor allem bin ich verletzt. Ich kann dir keine Hilfe sein, wenn mir diese Gefühle in die Quere kommen.« Er nahm ihre Hand und sah sie an, als sei sie ein fremder Gegenstand, den er zu kennen geglaubt hatte, von dem er nun aber feststellen musste, dass er sich getäuscht hatte. »Warum um alles in der Welt hast du mir nie etwas davon erzählt?«
»Erinnerst du dich nicht, als wir uns kennenlernten? Damals habe ich gesagt, ich müsse ganz von vorn beginnen. Anders hätte ich nicht überleben können. Es war genug, dass ich Forrests Tod verkraften musste. Wir waren uns doch gegenseitig eine gute Stütze, oder?«, fragte sie flehend. »Vielleicht bin ich in der unbewussten Hoffnung nach Bath zurückgekehrt, meine Tochter zu finden. Vor vielen Jahren habe ich meinen Namen ins Kontaktregister eintragen lassen. Forrest und ich sind sogar nach England gefahren, als unsere Tochter achtzehn wurde. Das war ein fahr vor seinem Tod. Wir haben
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