Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
wahrnahmen. Immerhin hatten sie von allen Arten die schärfsten Augen. Madeleine legte einen Finger auf den Baumstamm und ließ eine Ameise hinaufklettern. Hilflos drehte sich das kleine Tier im Kreis und versuchte, den Weg zurück in die Tretmühle zu finden. Madeleine legte den Finger wieder an den Baumstamm, und das Kerlchen krabbelte weiter wie schon seine Ahnen vor Abermillionen Jahren.
Wie viele Eichen waren hier gewachsen, in heftigen Unwettern zu Boden gestürzt oder vor Alter abgestorben und verfault, waren zu Erde geworden, in der andere Ameisen, andere Gattungen, ihre Nester errichteten, ihre Königinnen fütterten und ihre Jungen pflegten?
Schütze sie mit meinem Leben. Bringe jeden um, der sie mir zu nehmen versucht, ging es ihr durch den Sinn.
Ihr ganzes Leben stand köpf. Sie war im Begriff, ihr schwer erworbenes Gleichgewicht zu verlieren; der Boden unter ihren Füßen schwankte. Warum um alles in der Welt fing Rosaria ausgerechnet jetzt von ihrer Tochter an?
Madeleines Verstand wusste jetzt, dass Rachel nicht ihre Tochter war. Man hatte ihr genügend Beweise geliefert. Hatte sie sich nicht geschworen, sich keine falschen Hoffnungen mehr zu machen? Rachel war nicht ihre Tochter, und jetzt war sie noch nicht einmal mehr ihre Patientin; sie hatte die Therapie abgebrochen. Madeleine hatte weder einen Vorwand, zu ihr Verbindung aufzunehmen, noch hatte sie das Recht, sie zu belästigen. Die Sache war beendet. Und doch – in ihrem tiefsten Herzen wehrte sie sich gegen diese Gewissheit.
Mehr denn je brauchte sie Hilfe, das war ihr nun klar, um ihre Verluste zu verarbeiten. Sie musste mit jemandem sprechen, am besten mit einem erfahrenen Therapeuten, der ihr zu einer neuen Perspektive verhalf. Vielleicht sollte sie bei ihrem Berufsverband anrufen und sich jemanden nennen lassen, von dem sie noch nie gehört hatte. Vielleicht in Bristol, Reading oder Exeter. Notfalls konnte sie auch noch den Samariterbund anrufen und einem gesichtslosen Fremden erzählen, wie sie ihr Kind weggegeben und ihren Mann umgebracht hatte, ohne diese Taten je zu bewältigen.
Sie spürte einen Tropfen auf der Wange. Das Personal beeilte sich, die Tabletts auf den Tischen einzusammeln. Die Leute standen auf und begaben sich ins Haus. Einige warfen einen kurzen Blick in ihre Richtung. Sie sah sich selbst mit fremden Augen: eine Ausländerin mit einer riesigen Zigarre unter einem Baum neben einer Ameisenstraße im Regen. Wie wenig sie in dieses Land passte! Wie eigentümlich sie wirken musste!
Sie stand auf. Eine schwarze Wolkenwand war heraufgezogen. Mit einer jähen Bö öffneten sich alle Schleusen des Himmels.
Im Haus herrschte Grabesstille, nur der Regen schlug gegen die Fensterscheiben. Sie sagte sich, dass es Mittwoch war und sie deshalb eigentlich malen sollte. Beinahe drei Wochen hatte sie keinen Pinsel mehr angerührt, und die Leinwand war noch immer leer. Es gärte in ihr. Das neue Bild hatte nichts mit der Ameisenkönigin zu tun und gehörte nicht zur geplanten Serie. Es kam zuweilen vor, dass sie sich erlaubte, einer Laune oder einem Traumfragment zu folgen und spontan zu malen. Aber für dieses war sie noch nicht bereit; es hatte keinen Sinn, es auch nur zu versuchen.
Der ganze Abend lag vor ihr. Sie sah gewöhnlich nur die Nachrichten, ansonsten hasste sie es fernzusehen, und zum Lesen fühlte sie sich zu rastlos. Ihr Formicarium eignete sich jederzeit für eine Denkpause, aber sie konnte nicht einen ganzen verdammten Abend davor hocken und Ameisen beobachten. Zum Bath Spa zu schlendern und es sich in dem mit heißem Thermalwasser gefüllten Schwimmbad auf dem Dach gemütlich zu machen, war eine Alternative, aber letztendlich war Alkohol wirksamer. Eine Weile blieb sie am Telefon stehen und überlegte, ob sie eine Freundin anrufen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie keine Lust auf einen Plausch hatte.
Sie ging nach oben ins Schlafzimmer, zog ihre durchweichten Strümpfe aus und schlüpfte in die neuen Jeans. Sie saßen wie angegossen. Sie zog ihren besten BH an und durchforstete ihren Kleiderschrank nach dem Oberteil, das ihr am meisten schmeichelte. Sie schminkte sich selten, aber nun betupfte sie sich die Wangen mit einem Hauch Rouge und zog leicht die Lippen nach. Um ihre großen Augen mit den dichten Wimpern beneideten ihre Freundinnen sie am meisten. Sie trug reichlich Mascara auf. Die ganze Prozedur dauerte nur wenige Minuten. Ihr Haar hatte sich in dem Platzregen heftig gekräuselt, aber
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