Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
entgegnete sie und wandte sich in Richtung der Pierrepont Street, um ein Taxi zu suchen.
»Weiß du was«, sagte er und packte sie am Ellbogen. »Am Southgate gibt es nicht viel zu sehen, aber ich habe den Schlüssel zu dem Haus in der Rednor Street. Von hier sind es nur fünf Minuten zu Fuß. Dort ist es viel interessanter. Du wirst begeistert sein.«
Sie hielt inne, um sich zu vergewissern, ob er es ernst meinte. Er zuckte entwaffnend mit den Schultern und wies in die Richtung, die sie einschlagen mussten. Zum Teufel mit der Vernunft, dachte Madeleine. Der Gedanke, durch die verschiedenen Lagen des Bodens, auf dem sie sich täglich bewegte, nach unten zu steigen und die antike Stadt darunter zu sehen, faszinierte sie. Bildlich gesprochen machte sie auch mit ihren Patienten tagein, tagaus nichts anderes.
»Hast du denn die Schlüssel dabei?«
»Aber ja doch. Ich habe heute bis um sieben Uhr mit den anderen dort gearbeitet.«
Sie ließ sich von ihm durch die dunklen Straßen führen, in denen die Häuser aus dem 18. Jahrhundert wie steile Mauern auf beiden Seiten aufragten – bei Tag sehr eindrucksvoll, bei Nacht sehr unheimlich. Sie erreichten einen halbmondförmigen Straßenzug, dessen Gebäude in einem eleganten Bogen um eine zentrale Grünfläche angeordnet waren. Es war dunstig geworden, und die Straßenlampen leuchteten gedämpft. Wieder hörten sie Schritte hinter sich, aber als Madeleine sich umsah, war die Straße leer. Raubüberfälle waren selten in Bath; allerdings gab es viele Drogenabhängige.
Gordon hielt am Ende des Bogens inne. Sie sah nach oben. Ein Haus von solcher Größe und Pracht hatte sie nicht erwartet. Er öffnete ein ebenerdiges eisernes Tor und führte sie einige Steinstufen zu einer Souterrainwohnung hinunter.
»Ist das Haus denn unbewohnt?«, flüsterte sie, als er sich an einem Schlüsselbund zu schaffen machte.
»Keine Sorge. Das ganze Gebäude ist eine Baustelle. Der abscheulich reiche Amerikaner, der es gekauft hat, macht gerade wieder ein Einfamilienhaus aus den sechs Wohnungen, in die man es aufgeteilt hatte. Dabei ist man auf die römischen Ruinen gestoßen.«
Im Inneren des Gebäudes drehte er das Licht an, eine einsame Glühbirne, die in einem kahlen Korridor hing, von dessen Mauern man den Putz abgeklopft hatte. Überall standen Ausgrabungswerkzeuge. Er führte sie durch einen Gang nach unten. Sie folgte ihm die Wendeltreppe hinab, die von dem Licht im Korridor kaum erleuchtet wurde. Im Keller konnte sie in einer tiefen Aushebung von der Größe eines geräumigen Zimmers den oberen Teil eines römischen Bogens sehen. Eine Aluminiumleiter lehnte an der Wand der Grube. Die Tiefe von vier Metern war mit Kreide an der Mauer vermerkt.
»Gibt es hier kein Licht?«, fragte sie leise. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider.
»Scheiße, nein. Die Lampe ist in meinem Auto.«
Sie näherte sich dem Rand. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Sie konnte einen Quadratmeter Fußboden erkennen, von dem die Erde sorgfältig entfernt worden war. Ein verschlungenes Mosaik. Von einem Gefühl der Ehrfurcht übermannt, spürte sie, wie sie eine Reise in die Vergangenheit antrat. Sie hörte und roch Wasser, das aus den Tiefen der Erde emporschoss. Heiße Dämpfe stiegen ihr in die Nase. Sie rief Gordon.
»Die Luft ist voll Dampf. Gibt es hier eine Quelle?«
Er wandte sich um und sah sie lange an. »Wenn ja, dann liegt es Jahrhunderte zurück, dass sie aktiv war. Das ist Jeffs Aufgabenbereich. Er untersucht, ob es hier eine weitere heiße Quelle gab. Selbst wenn sie versiegt sein sollte – kannst du dir vorstellen, was für eine Entdeckung das wäre? An einer anderen Stelle haben wir die Reste eines Beckens ausgegraben. Der Amerikaner wollte ein riesiges Schwimmbad bauen. Er hatte keine Ahnung davon, dass die Römer ihm zuvorgekommen waren. Hat seine Pläne ziemlich vermasselt.« Er schnalzte mit der Zunge und imitierte ihre amerikanische Aussprache: »Aber das ist natürlich eine gute Geschichte für die Leute zu Hause.«
Sie schloss die Augen. »Es ist unglaublich. Man kann sie fast berühren … die Leute, die hier lebten – vor zweitausend Jahren.«
Er nahm ihre Hand, küsste sie feurig und drückte Madeleine gegen die Mauer, obgleich sie sich ihm widersetzte. Doch dann lag sie entgegen ihren guten Vorsätzen plötzlich in seinen Armen. Der Zauber des Ortes hatte sie erregt. Als ob das, was unter der Erde bei völliger Dunkelheit und zu einer anderen Zeit
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