Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
nächsten. Sie war innerlich wie erstarrt. Am besten dachte sie nicht an die vergangene Woche oder, besser noch, an die vergangenen Monate. Vielleicht hätte sie doch nicht aufhören sollen, zu Madeleine zu gehen. Nein. Die Gespräche hatten ihren Zorn nur verschlimmert, anstatt ihn zu besänftigen. Die so genannte Therapie war eine Farce. Sie hätte sich nie darauf einlassen sollen. Was sie brauchte, war Valium. Aber sie hatte sich geschworen, nie wieder zu Tabletten zu greifen. Außerdem musste sie hellwach bleiben, wenn sie dafür sorgen wollte, dass Sascha nichts zustieß. Allein darauf kam es jetzt an.
Zusammen mit einer Schar von Touristen verließen sie die Bäder. Rachel hielt Sascha fest an der Hand, als sie mit ihm in den Hof der Abteikirche ging. Da Sascha ein Eis wollte, setzten sie sich in den Schatten des Gebäudes. Der kleine Junge lutschte sein Eis, und Rachel zog an ihrer Camel, als wäre die Zigarette ihre einzige Sauerstoffquelle. Es war ihre letzte, dabei hatte sie die Schachtel erst am Morgen gekauft. Sie sah zu Sascha hinüber. Ein tolles Vorbild war sie ihm. Nun, Anton rauchte nicht, vielleicht würde Sascha ja nach ihm schlagen. Vorbild – ausgerechnet er. Madeleine hatte angedeutet, dass Rachel sich von Anton lösen müsse, weil Sascha sonst Antons Verhalten nachahmen würde. Sie biss die Zähne zusammen, und Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen.
»Und was machen wir jetzt, Mama?«
»Alles, was du willst, Sascha.« Sie tupfte sich die Augen mit dem Ausschnitt ihres T-Shirts ab. »Es ist dein Tag.«
»Fällt dir denn gar nichts ein?«
»Mein Kopf ist völlig leer, mein Liebling.«
»Dann fahren wir mit dem Schiff. Auf dem Fluss.«
»He, gute Idee!« Nach nichts stand ihr weniger der Sinn, aber was hätten sie sonst unternehmen können?
Es war die letzte Fahrt des Tages, und sie machte Rachel trotz allem Freude. Sie konnte sich einfach zurücklehnen, während der Ausflugsdampfer auf dem Fluss entlangtuckerte. Am Ufer wuchsen Baumriesen, und man musste sich ducken, weil ihre Zweige bis ins Schiff reichten. Der Bootsführer brachte alle an Bord, einschließlich Rachel, mit seinen pausenlosen Kommentaren zum Lachen. Er schien ein sehr netter Mensch zu sein, und Sascha hatte den Sitz neben seiner Mutter verlassen, um sich vorne zu ihm zu setzen. Die beiden schienen sich gut zu verstehen.
Rachel beobachtete, wie sie schwatzten und lachten. Sascha bombardierte den armen Mann mit Fragen und eigenen Witzen. Bei Anton verhielt er sich ganz anders. Er sah zwar zu seinem Papa auf wie zu einem Superhelden, gleichzeitig war er jedoch in seiner Gegenwart ängstlich und kriecherisch, was Rachel mit tiefem Unbehagen erfüllte. Zum Glück hatten sie nichts mehr von Anton gehört und gesehen, seit er Sascha zu dem Ausflug mitgenommen hatte, der ihren Sohn so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Sie hoffte, dass sie recht lange vor ihm Ruhe haben würden. Jedes Mal, wenn Anton wegfuhr, wünschte sie sich, dass er nie wiederkehren würde.
Am Wehr von Bathampton machte das Schiff kehrt und trat die Rückfahrt an. Es tuckerte nun etwas schneller. Sascha plauderte nach wie vor mit seinem neuen Freund. Dieser hatte Sascha seine Bootsführermütze aufgesetzt. Der Junge sah niedlich aus und hielt die Mütze besorgt fest, als könnte sie ins Wasser fallen. Sie wünschte sich, der Ausflug auf dem Avon hätte den ganzen Tag gedauert. Es beruhigte sie, einfach still zu sitzen, nichts zu denken und zu erleben, wie ihr Junge inmitten der grünen Natur, dem Wasser und dem blauen Himmel glücklich war – wie auf einem Bild in einem rührseligen Buch. Aber wenig später fuhren sie bereits unter der Poulteney Bridge hindurch und legten am linken Ufer an. Es sah nicht danach aus, als habe Sascha vor, die Mütze zurückzugeben, aber als der Mann sie wiederverlangte, reichte er sie ihm. Er zog ein weinerliches Gesicht und wollte das Boot nicht verlassen. Sie musste ihn überreden, mit ihr an Land zu gehen.
Im Freien befiel sie stets eine gewisse Ängstlichkeit. Das war schon in ihrer Kindheit der Fall gewesen. Ihre liebe alte Mama war geradezu lächerlich besorgt um sie gewesen, und die Jahre mit Anton hatten die Dinge nicht besser gemacht. Auf der Straße zu sein, hatte seither eine bestimmte Bedeutung für sie. Aber auch der Gedanke, nach Hause zu gehen, erfüllte sie heute mit Unbehagen.
Schon als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hätte Sascha packen und
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