Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
im Bett war sie selbst. Die jähe Vision einer unwahrscheinlichen Zukunft schockierte sie.
»Sie können eintreten«, sagte jemand.
Am Fenster saß eine Schwester, auf dem Schoß ein abgegriffenes Taschenbuch.
Madeleine näherte sich dem Bett. Rosaria trug das gesteppte Bettjäckchen, das sie ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihr Haar war ordentlich geflochten und lag um ihren Kopf, wie sie es liebte. Aber war es wirklich nötig gewesen, ihr Gebiss zu entfernen? Mama war eitel und hasste es, ohne Zähne zu sein. Madeleine setzte sich zu ihrer Mutter, küsste das Kruzifix und den Flakon mit dem Knochen der Ahnin, dann umarmte sie die schmalen Schultern und bedeckte die Stirn Rosarias mit Küssen.
»Despiertate Mama. Estoy aqui«, flüsterte sie. »Ich bin hier, Mama.«
»Sie hat keine Schmerzen«, meinte die Schwester.
Madeleine wandte sich zu der jungen Frau. »Und woher wollen Sie das wissen?«
Die Schwester sah Madeleine einen Moment lang mit leerem Blick an. »Ich weiß es nicht.«
Sie stand rasch auf und verließ das Zimmer. Wenige Minuten später trat Dr. Jenkins ein.
»Sollen wir einen Krankenwagen rufen, Miss Frank?«
»Damit meine Mutter ans Netz angeschlossen wird und man ihr Gehirn schmort? Nein, Dr. Jenkins.«
Er kam zum Bett und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Madeleine, was sollen wir denn sonst tun?«
Der Einwand war vernünftig und angesichts der Umstände auch fair. Die Elektroschocktherapie funktionierte in solchen Fällen tatsächlich, aber sie vernichtete auch Millionen von Gehirnzellen. Sie suchte fieberhaft nach einem Grund, ihre Mutter da zu lassen, wo sie war, und die Ärzte daran zu hindern, ihr ohnehin krankes Gehirn weiter zu schädigen. »Können wir nicht noch ein wenig warten? Sie an einen Tropf legen und ihr noch ein, zwei Tage geben?«
»Das ist hier kein Krankenhaus, Madeleine«, wandte der Arzt leise ein.
»Ich weiß, Dr. Jenkins. Aber wenn man bedenkt, welche Unsummen mein Vater jeden Monat für die Pflege meiner Mutter hinblättert, so halte ich ein gewisses Entgegenkommen durchaus für angebracht.«
Sie war den Tränen nahe, und er tätschelte verlegen ihre Schulter.
»Was ist mit dem Doktor, der mit meiner Mutter gesprochen hat, dem Anthropologen? Ich würde mich ganz gern mit ihm unterhalten.«
»Ich frage Mrs Ollenbach, ob sie noch seine Nummer hat. Obwohl ich gestehen muss, dass ich kein Vertrauen in diese Sorte ›Doktoren‹ habe«, erklärte Jenkins leicht von oben herab. »Ich bin in Eile, Madeleine, aber Mildred ist in ihrem Büro. Denken Sie nach, Madeleine. In diesem Zustand können wir Ihre Mutter nicht lassen.«
Als er gegangen war, beugte sich Madeleine über Rosaria und versuchte sanft, ihr die Augen zu schließen. »Mach lieber die Augen zu, Mama, sonst klebt man dir hier die Lider noch mit Klebeband fest. Das willst du doch bestimmt nicht, Mama. Sag doch etwas, damit ich weiß, dass du bei mir bist. Bitte, Mamacita. Dirne algo, cualquier cosa. Wo ist er jetzt, dein Babalawo Pedrote, Mama? Jetzt könntest du ihn gebrauchen.«
Bei der Erwähnung ihres Mentors flackerten Rosarias Augenlider. Ihre Lippen bewegten sich, und sie versuchte, etwas zu sagen.
Madeleine beugte sich vor. »Was, Mama?«
Rosaria hustete schwach, um sich zu räuspern. Noch einmal versuchte sie zu sprechen.
»Nimm das Kind und flieh«, flüsterte sie schließlich mit Panik in der Stimme. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. »Nimm das Kind und flieh.«
Madeleines Hand zitterte, als sie das Gesicht ihrer Mutter streichelte. »Was meinst du damit, Mama?«
»Nimm das Kind fort«, wiederholte Rosaria und schlug kraftlos auf die Decke, um ihrem Rat Nachdruck zu verleihen.
»Welches Kind denn, Mama?«
Madeleine erhielt keine Antwort. Ihre Mutter bewegte nur aufgeregt die Hände.
»Mama. Ich vermute, dass du etwas gespürt hast. Vielleicht hast du auch meine Gedanken gelesen, aber sie ist nicht mein Kind.« Madeleine zögerte und flüsterte dann: »Oder ist sie es doch, Mama? Sie ist es nicht, oder?«
»Nein«, wimmerte Rosaria und schüttelte den Kopf. »Das Kind«, wiederholte sie erschöpft. Mit steifen Händen zog sie an der Kette, die sie um den Hals trug. »Nimm sie. Trage sie.«
»Nein, Mama. Du brauchst sie selbst.«
»No, Magdalena. Ahora es tuyo. Tu, was ich dir sage.«
Um sie zu beruhigen, gehorchte Madeleine, nahm vorsichtig die Kette ihrer Mutter und legte sie sich um den Hals. Sie presste das Kruzifix und den Flakon mit dem gemahlenen Knochen an
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