Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
eine.«
Das Telefon surrte, und Sylvia hielt Rachel mit einer Geste zurück. »Vergessen Sie den Glimmstängel, Miss Locklear«, sagte sie. »Madeleine erwartet Sie.«
Madeleine gab Rachel beim Eintreten nicht mehr die Hand. Es ließ sich nicht sagen, ob irgendeine Strategie dahintersteckte. Rachel bot ihr ebenfalls nicht die Hand an, obwohl sie es irgendwie als ein wenig tröstlich empfunden hätte, von der Frau berührt zu werden, die sich (gegen Bezahlung) für sie interessierte.
Sie setzten sich. Während sich das Schweigen in die Länge zog, musterte Rachel ihre Therapeutin. Madeleine trug einen engen schwarzen Rock und einen Baumwollpullover mit Folkloremuster in lebhaften Creme-, Schokoladen- und Kaffeetönen, die so intensiv waren, dass man am liebsten einen Löffel genommen und sie verspeist hätte. Trotz dieser lässigen Eleganz schien sie eher der Typ zu sein, der sich in abgetragenen Jeans und einem alten Hemd wohlfühlte. Ihre ungezupften Augenbrauen und die schwarze Lockenfülle gaben ihr etwas Ungezähmtes, als gehöre sie in einen Wald und nicht in ein Büro. Ja, sie hatte eindeutig etwas Wildes, fast Barbarisches. Vielleicht lag es an der Art, wie sie sich bewegte – gleichzeitig angespannt und entspannt. Ihre Haut war glatt wie ein Babypo, und sie hatte einen herrlichen karamellbraunen Teint. Ihre Augen waren dunkel, intensiv, als könne sie durch ihr Gegenüber hindurchsehen, und ihre Wimpern waren unverschämt lang.
»Was ist los?«, fragte Madeleine.
»Warum?«
»Sie sehen mich so eindringlich an.«
»Na und? – Wie alt sind Sie?«
Madeleine zeigte auf ihre Brust. »Ich?«
Rachel sah sich mit übertriebener Geste im Zimmer um. »Ja, vermutlich Sie.«
»Warum? Ist das wichtig?«
Rachel suchte nach einer Antwort. »Ich frage mich, wie groß der Altersunterschied zwischen uns ist. Ich würde Sie auf etwa neununddreißig, vierzig schätzen.«
»Nein. Zwischen uns liegen zehn Jahre.«
»Wirklich? Na schön.«
Madeleine lächelte. »Falls Sie nach einem Grund gesucht haben sollten, warum ich Sie nicht verstehen kann – der Altersunterschied jedenfalls ist nicht groß genug.«
»Meine Mum war schon ziemlich alt, als sie mich bekam.«
Madeleine sagte nichts. Sie wartete zweifellos darauf, dass sie ihr von Dottie erzählte. Sie hatte in der letzten Sitzung einen sanften Druck auf sie ausgeübt und etwas über ihre Mutter wissen wollen. Es gab nicht viel zu wissen, und Rachel hatte es ihr erzählt: Ihre Mum war gestorben, als sie zwölf gewesen war. Dottie war eine wunderbare Mum gewesen. Altmodisch, lieb, aber ängstlich und überfürsorglich.
»Erzählen Sie mir mehr über sie«, ermunterte Madeleine Rachel.
»Wir haben sie letzte Woche abgehandelt. Lassen Sie uns mein Geld nicht an ein Thema verschwenden, das nichts mit dem Grund für mein Hiersein zu tun hat.«
»Gut«, lenkte Madeleine mit einem Anflug von Verärgerung ein und lehnte sich herausfordernd in ihrem Sessel zurück. »Worüber möchten Sie denn heute sprechen?«
»Darf ich Sie daran erinnern, dass ich aus einem bestimmten Grund hier bin«, erwiderte Rachel zornig. »Anton. Ich will mich von dem Arschloch heilen und mein Leben auf die Reihe kriegen.«
»Das behaupten Sie mir gegenüber ständig.« Madeleine lehnte sich plötzlich vor und fixierte sie mit einem durchdringenden Blick. »Aber ich glaube Ihnen nicht. Es klingt nicht wahr.«
Nicht wahr! Sie spürte, wie Zorn und Panik in ihr aufstiegen. Was sonst sollte sie ausgraben, um die Sitzung am Laufen zu halten? Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, um zu testen, wie viel ihre Therapeutin wirklich vertragen konnte.
»Also gut! Ich glaube, ich sollte Ihnen etwas über mich und Anton erzählen. Erhebend ist es nicht … Es wird Ihnen nicht gefallen.«
»Testen Sie mich.«
»Machen Sie sich auf was gefasst.« Rachel atmete tief durch. Das genaue Datum hatte sie vergessen, aber sie erinnerte sich an den Tag ihrer ersten Begegnung: Es war an einem Mittwoch gewesen. Sie hatte im East End von London gearbeitet, in einem Imbiss namens Hungry Harrys …
***
Sie sah zu Irene hinüber, die den Boden wischte, und dachte, wenn sie doch nicht ganz so maskulin aussehen würde. Das Haar ihrer Kollegin war hinten und seitlich kurz geschnitten, aber es war von einem schönen Blond, und ihre Augen waren blau wie bei einem Engel. Ihre Figur war ein wenig stämmig, sie trainierte zuweilen in einer Sporthalle, und ihr kariertes Hemd spannte über den
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