Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
unternimmt, ist er sich sicher, einen schrecklichen Unfall verursacht zu haben, so dass er, in einer Endlosschleife gefangen, nachsehen muss. Manchmal fährt er bis zu zwanzigmal pro Nacht los. Irgendwann ist der arme Kerl dann so erschöpft, dass er auf einem Parkplatz oder in einer Haltebucht hinter dem Steuer schlafen muss.«
»Was würde er tun, wenn er sein Opfer tatsächlich finden würde?«
»Es natürlich ins Krankenhaus bringen.«
»Moment mal, meine Schöne, werfen Sie mich nicht in denselben Topf«, protestierte Edmund. »Meine eigenen zwanghaft-obsessiven Tendenzen basieren ganz klar auf Logik und Fakten. Es klingt, als sei Ihr Patient lediglich durcheinander. Vielleicht ist er Alkoholiker oder bloß ein wenig unterbelichtet. Er hat nicht durchschaut, dass er keinen Unfall verursacht haben kann, wenn er kein Opfer findet.«
»Der Zwang entspringt seinem Unbewussten. Er weiß, dass es irrational ist, aber er glaubt dennoch, dass er eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt.«
»Ich würde sagen, dass er ein hoffnungsloser Idiot ist.«
Madeleine seufzte. »Nun sehen Sie, warum ich Ihnen so etwas nicht erzählen sollte. Es grenzt ans Unethische.«
»Ach, zum Teufel«, widersprach Edmund mit einer abfälligen Handbewegung. »Woher soll ich denn wissen, wer Ihr Patient ist? – Sind Sie den Freund losgeworden?«, wechselte er übergangslos das Thema.
Er sah ihr so tief in die Augen, dass sie einem direkten Blickkontakt auf seine geschwollene Stirn auswich. Dort pulsierte eine Ader, die einem quer über seinen Kopf kriechenden Wurm glich.
»Sind Sie ihn losgeworden?«, polterte Edmund unvermittelt los.
»Ja«, erwiderte sie ärgerlich. »Aber das geht Sie überhaupt nichts an.«
»Wissen Sie was, meine Schöne?« Er steckte den Kopf in die Luke. »Ich kann jeden beseitigen. Selbst von hier aus.«
»Das wird nicht nötig sein, danke, Edmund. Nun hören Sie auf, sich so gruselig aufzuführen, sonst komme ich nicht wieder.«
»Das klingt nach Erpressung.«
Jäher Ärger loderte in ihr auf. Hatte sie das wirklich nötig? »Und Ihrs klingt nach einer Bedrohung meiner Bekannten.«
»Auch Sie könnte mein langer Arm erreichen, wenn ich es wollte.«
»Wie nett, Edmund. Genau diese Art von Freundschaft brauche ich. Einen netten, fürsorglichen Freund, der mir damit droht, mich an einem Balken aufzuhängen und mir die Adern zu öffnen, damit ich langsam verblute.«
Madeleine wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Sie hatte im Zorn gesprochen – was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hatte sich doch geschworen, nie im Einzelnen auf seine Verbrechen einzugehen, weil das ihre Beziehung um einen Aspekt erweitern würde, mit dem sie in keiner Weise umgehen konnte.
Wie immer spürte Edmund, was sie empfand, und ließ den Kopf beschämt hängen. Sie wusste, dass ein Psychopath keine Reue empfinden konnte, also war seine Zerknirschtheit nur vorgetäuscht. Aber vielleicht hatte er Angst, sie zu verlieren. Wenn es ein Gefühl gab, vor dem sich niemand schützen konnte, dann die Furcht. Der Wurm auf seinem Kopf jedenfalls war blass geworden und pulsierte nicht mehr.
»Verlassen Sie mich nicht, Madeleine«, sagte er zum Boden gewandt. »Ich brauche Sie.« Er hob den Blick. »Möglicherweise brauchen Sie mich auch. Ich kann auf Sie aufpassen, und ich würde Ihnen nie im Leben irgendetwas antun. Wenn ich von hier drinnen meine Hand über Sie halte, dann nur, um Sie zu beschützen. Ich habe nichts anderes andeuten wollen.«
Sie sah, dass er es ehrlich meinte. Wie oft hatte er geschworen, ihr auf ewig in Freundschaft verbunden zu sein. Er war ein brutaler, unbarmherziger, sadistischer Mörder, aber auf einer tieferen Ebene vertraute sie ihm. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum das so war. Doch unvermittelt erschöpfte sie seine schiere Bedürftigkeit. Gehörte es nicht zu ihrer eigenen verqueren Symptomatik, zu ihrer Selbstbestrafungsroutine, anderen emotionale Hilfe zu gewähren, sei es für Geld oder gratis? John hatte völlig recht, sie konnte sich nicht immer um jeden kümmern. Ihr weiser Kollege hatte ihr mehr als einmal gesagt, dass sie sich auf einem von einer Art gegenseitiger Abhängigkeit getriebenen Karussell befinde, und was sie wirklich brauche, sei eine Therapie für sich selbst. Er war der Meinung, dass sie sich wegen Forrests Tod schuldig fühle und um eine Wiedergutmachung bemühe. Das traf natürlich zu, war aber nur die halbe Wahrheit. Wenn er nur ahnen würde …
Sie wandte
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