Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Innenseite von Rachels Arm mit dünnen, sich überschneidenden Narben übersät war. Dann kamen ihr die ausgerissenen Ohrläppchen in den Sinn, die von dem üppigen Haar bedeckt waren. Das Leben hatte diese Frau auf so vielfältige Weise gezeichnet. »Ich bin ganz und gar auf Ihrer Seite, Rachel.«
Rachels geschundenes Gesicht wurde etwas weicher, aber ihr Arm unter Madeleines Hand war angespannt. Sie betrachtete einen Augenblick lang die Stelle ihres physischen Kontakts, dann entzog sie sich Madeleines Berührung langsam und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Es kam ganz plötzlich, wissen Sie. Ich empfand nichts mehr für ihn. Ich bin ihm gegenüber erkaltet. Teilweise, weil ich Angst hatte, dass Sascha aufwachen und sehen würde … wie wir Sex miteinander hatten. Ein klassischer Fall, nicht? Ich hatte mehr Angst, dass Sascha uns sehen könnte, als ich Angst vor Anton hatte. Ich wollte, dass er aufhörte. Er ist daran gewöhnt, dass ich mich ein wenig wehre, das gehörte zu unseren beschissenen Spielchen. Ich wollte abbrechen, mir war es ernst damit, aber als ich meine Zähne in ihn vergrub, habe ich erheblich mehr abbekommen, als ich ausgeteilt hatte.« Sie lehnte sich zurück und zeigte auf ihr Gesicht. »Und das ist nur der sichtbare Schaden.«
»Sie haben ihn gebissen?«
»Da, wo es etwas bringt. Aber bei weitem nicht fest genug. Er hat nicht aufgehört.«
Ein erschütterndes Bild dieser Szene blitzte vor Madeleines innerem Auge auf. Sie wartete einen Augenblick, ob noch mehr kam. Aber Einzelheiten waren nur dann wichtig, wenn Rachel es als hilfreich empfand, darüber zu reden. Madeleine wäre gern dem vielversprechenden Entschluss ihrer Patientin und der Frage nachgegangen, woher er kam. Es war mehr als positiv, dass ihr die Reaktion ihres Sohnes beim Anblick seiner sexuell miteinander verkehrenden Eltern wichtiger war als die Angst (und möglicherweise die Erregung), die ihr jener verkommene und gefährliche Kerl einflößte. Rachels Verantwortungsgefühl gegenüber sich selbst und ihrem Sohn …
Instinktiv wollte sich Madeleine mit praktischen Dingen befassen. Wie konnte sie Rachel vermitteln, dass sie immer verwundbar bleiben würde, wenn sie das Problem allein lösen wollte? Wie konnte sich Rachel überhaupt schützen, wenn sie sich weigerte, die Polizei einzuschalten? Eine richterliche Anordnung reichte eventuell aus, Anton abzuschrecken. Aber sie wusste, dass sie nur Rachels Unmut weckte, wenn sie wieder davon anfing, und die Stimmung zwischen ihnen war ohnehin heikel. Dennoch hatte sie das Gefühl, an einem Wendepunkt zu stehen. Bald würden sie an einem Strang ziehen, weil Rachel Vertrauen zu ihr gefasst hatte. Sie arbeiteten gemeinsam an einer Sache, und Rachel hatte wohl deutlich gespürt, dass sie sich auf Madeleines bedingungslose Unterstützung und Wertschätzung verlassen konnte.
»Rachel, einen gewalttätigen Mann zu beißen … Was Sie getan haben, war sehr gefährlich. Es gibt bessere Methoden, damit umzugehen …«
»Sie wollen mir schon wieder mit der Polizei kommen«, unterbrach Rachel sie wütend. »Lassen Sie das, verdammt noch mal.«
Madeleine zögerte mit ihrer Antwort. Sie war es gewohnt, alle möglichen Gefühle um die Ohren gehauen zu bekommen, aber Rachels Aggression war ermüdend. Gerade wollte sie etwas dazu sagen, als Rachel ausstieß:
»Tut mir leid. Ich bin ekelhaft. Und Sie sind erstaunlich tolerant. Es überrascht mich, dass Sie mich noch nicht vor die Tür gesetzt haben. Sie würden vermutlich Ihrer eigenen Tochter nicht erlauben, so mit Ihnen zu reden, geschweige denn einer Fremden.«
Etwas an dieser unerwarteten Äußerung löste Unbehagen bei Madeleine aus. »Puh …«, rief sie und hob die Hände in gespielter Abwehr. »Es ist doch gar nicht Ihre Art, entgegenkommend zu sein, Rachel. Oder sich zu entschuldigen. Was zum Teufel sollte ich tun, wenn Sie nett zu mir werden würden?«
Rachel lächelte. »Wir kommen voran. Wir haben festgestellt, dass ich ein Miststück bin.«
»Und ich mag Sie auch dann, Rachel. Denken Sie ja nicht, dass Sie an Ihrem Verhalten mir gegenüber etwas ändern müssen. Ändern wollen wir Ihr Verhalten gegenüber Anton und gegenüber sich selbst.« Madeleine blickte auf Rachels vernarbtes Handgelenk.
»Mein Verhalten gegenüber Anton? Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Ich bin fertig mit ihm. Es reicht mir endgültig; ich bin nicht mehr die kleine Idiotin. Jetzt ist ein für alle Mal Schluss, und ich fange neu an. Ich werde
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