Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
an, der ihr bis unter das Kinn reichte. Welche Verletzung kaschierte der wohl, fragte sich Madeleine.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Sonnenbrille abzunehmen?«, fragte sie sanft.
Rachel zögerte, nahm dann aber vorsichtig mit beiden Händen die Brille ab, als würde ihr die kleinste Berührung Schmerzen bereiten. Madeleine lehnte sich in ihrem Sessel vor und betrachtete die Verletzungen. Dabei bemühte sie sich, gelassen zu wirken.
Rachels rechte Gesichtshälfte war gelb, der Bereich um das Auge herum lila und teilweise zugeschwollen. Die andere Seite war weniger brutal zugerichtet, nur das Auge sah wegen einer geplatzten Ader aus, als wäre es in Blut gebadet worden.
»Hat sich das ein Arzt angesehen?«
Rachel antwortete zunächst nicht, als sei die Frage nichts als eine oberflächliche Freundlichkeit und habe mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Madeleine wartete.
Schließlich zuckte Rachel mit den Schultern und versicherte: »Es ist wirklich bloß eine Prellung. Das Letzte, was ich brauche, ist ein Arzt, der mich unter Druck setzt. Aber möglicherweise sollte ich einen Zahnarzt aufsuchen.« Sie öffnete ihren Mund und drückte mit dem Zeigefinger gegen einen Backenzahn. »Es ist das zweite Mal, dass sich dieser gelockert hat.«
»Anton?«
»Wer sonst?«
»Also hat er Sie gefunden?«
»Wollen Sie etwa andeuten, dass ich mich auf die Suche nach ihm gemacht habe?«
Madeleine schüttelte seufzend den Kopf. »Bei Ihnen, Rachel, bemühe ich mich nach Kräften, überhaupt nichts anzudeuten. Sollte ich mir die Mühe machen, Sie zu fragen, ob Sie die Polizei gerufen haben?«
Müde musterte Rachel sie. »Sie kapieren’s wohl einfach nicht. Ich lasse die Polente nicht in mein Privatleben rein. Aber keine Sorge …« Sie beugte sich vor und stützte die zu Fäusten geballten Hände auf die Knie. »Es ist nun endgültig aus und vorbei, ich lass mir nichts mehr gefallen. Haben Sie mich verstanden? Hören Sie mich? Er ist in mein Haus eingebrochen, in mein Haus. Er hat mich zusammengeschlagen, mich vergewaltigt, den Hund meines Sohnes gestohlen, und er hat das gesamte Geld aus meinem Portemonnaie genommen. Es war nicht viel, etwas mehr als fünfzig Pfund; aber verdammt noch mal, er hat mich beraubt. Die Mutter seines Sohnes!«
Madeleine rang nach Luft und bemühte sich nach Kräften, ihr Entsetzen zu verbergen. »O Rachel! Das sprengt meine Vorstellungskraft. Ich hoffe, Sie …«
Rachel schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Mein Entschluss steht fest. Egal, was geschehen mag, ich lasse nie wieder zu, dass er mir so etwas antut.« Sie starrte Madeleine fast drohend an, als wollte sie die Therapeutin zwingen, Zweifel zu äußern. »Haben Sie mich verstanden, Madeleine. Ich werde so etwas nie wieder zulassen.«
Madeleine unterdrückte einen von Herzen kommenden Jubelschrei und nickte schweigend. Sie registrierte außerdem, dass Rachel sie zum ersten Mal mit ihrem Namen angesprochen hatte.
»Sie glauben mir nicht?«, fuhr Rachel sie an.
»Doch, das tue ich«, versicherte Madeleine ruhig. »Aber wie wollen Sie Ihre Entscheidung umsetzen? Schwere Körperverletzung, Vergewaltigung und Raub sind etwas, worauf man sich nicht freiwillig einlässt. Es entzieht sich Ihrer Kontrolle.«
»Das ist mal wieder typisch für Sie«, rief Rachel zornig. »Immer das Leben von der heiteren Seite betrachten. Sie glauben mir nicht, weil Sie denken, dass ich freiwillig Antons persönliche Sexsklavin und sein Punchingball bin.«
»Langsam. Genau das haben Sie mir mehrfach mitgeteilt. Sie haben mir erzählt, dass Sie auf Gewalt abfahren und dem Bastard hörig sind.«
Unzufrieden biss Madeleine die Zähne zusammen. Aus der spontanen Umarmung und dem warmen Füreinander war ein angespanntes Wortgefecht darüber geworden, wer was gesagt hatte. Warum musste sie die arme Frau daran erinnern, dass sie, bewusst oder unbewusst, ihre Situation durch ihre Entscheidungen selbst herbeigeführt hatte? Es wäre vielmehr angemessen gewesen, ihr Anerkennung für ihre Entschlossenheit zu zollen, sie zu unterstützen und sich in sie hineinzuversetzen.
Sie zog ihren Sessel ein wenig näher zu Rachel hin, so dass ihre bestrumpften Knie Rachels abgenutzte Baumwolljeans beinahe berührten.
»Sie glauben ja gar nicht, wie sehr es mich freut, dass Sie sich nichts mehr gefallen lassen wollen«, versicherte sie mit Nachdruck und legte ihre Hand leicht auf Rachels Arm. »Ich kann sehen, dass es Ihnen ernst ist.« Ihr fiel auf, dass die
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