Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Gesicht wich.
»Miss Locklear, wussten Sie, dass dieser Mann Ihren Sohn mitnehmen würde – mitten aus dem Unterricht?«
»Nein, natürlich nicht. Wie konnten Sie das zulassen?«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sascha entführt wurde. Wir konnten den Mann nicht aufhalten. Soll ich die Polizei anrufen?«
»Wann war das? Wann ist das passiert?«
»Gerade eben, vor einer Minute. Miss Bailey ist außer sich. Sie müssen mir sagen, was hier zu tun ist, Miss Locklear. Es wäre mir lieb gewesen, wenn ich gewarnt worden wäre, dass diese Möglichkeit besteht. Wir können nicht die Verantwortung für …«
»Aber ich habe Sie doch gewarnt!«, schrie Rachel.
»Nicht ausdrücklich.«
»Vielleicht tauchen sie ja gleich hier auf. Ich rufe Sie zurück. Lassen Sie die Polizei erst einmal außen vor.«
Rachel schob das Handy in die Tasche ihrer Bluse und ließ sich auf das Sofa fallen. Die Knie waren ihr weich geworden. Anton hatte ihr seine Handynummer geben wollen, aber sie hatte das mit dem Argument abgelehnt, dass sie keinen Grund habe, ihn anzurufen. Wie hirnverbrannt von ihr. Wie absolut beschränkt, stur und dämlich. Nicht dass es ihr helfen würde, wenn Anton erst einmal die Entscheidung gefällt hatte, ihr Sascha wegzunehmen. Vielleicht war sie zu selbstherrlich gewesen, zu wild entschlossen, ihren Kopf durchzusetzen, als sie mit Sascha von London weggezogen war. Ein neues Leben beginnen? Eher ihr Leben beenden oder zumindest alles, was ihr darin wichtig war. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Ihr wurde übel. Sie rannte die Treppe zur Toilette hoch und kniete sich über die Schüssel. Aber so sehr sie auch würgte, es kam nichts heraus. Sie stützte die Ellenbogen auf den Sitz und starrte lange in die Schüssel, während sie krampfhaft überlegte, was sie tun sollte. Wieder läutete das Telefon. Sie sprang auf und eilte nach unten. Fast wäre sie auf der Treppe gestolpert. Dann bemerkte sie, dass das Telefon in ihrer Tasche steckte.
»Hier ist dein demütiger Liebhaber«, meldete sich Anton, »und dein geliebter Sohn.«
Rachel sank auf die unterste Stufe. »Wo seid ihr?«, schrie sie.
»Es ist ein langes freies Wochenende, und wir legen einen kleinen Urlaub ein.«
»Bring ihn zurück. Sofort!«
»Hör mal. Baby. Ich weiß, dass ich neulich ein schlimmes Arschloch war.« Er schwieg, und die Angst hinderte sie daran, etwas zu sagen. »Du weißt ja, wie ich manchmal bin«, fuhr er fort. »Aber ich habe Sascha ein Versprechen gegeben: dass ich von nun an ein ganz normaler Dad sein werde, wie ein netter Engländer. Dass ich mich nicht mit seiner Mum streite.« Seine Stimme wurde leiser, als er zu Sascha gewandt fragte: »Stimmt’s, Sascha?«
Rachel hörte das ruhige Summen des Motors im Hintergrund und ihren Sohn, der bestätigte: »Ja, Daddy, du streitest dich nicht mehr mit Mum.«
»Hörst du?«, schmeichelte Anton. »Ich meine es ernst, Rachel. Ich habe viel nachgedacht. Ich weiß, dass ich dich schrecklich verletzt habe, und ich bin völlig außer Kontrolle geraten.«
»Wohin bringst du Sascha?«
»Irgendwohin, wo es schön ist. An einen Strand. An die Westküste von Wales vielleicht. Ich bin noch nie in Wales gewesen. Oder zum neuen Wohnsitz meines Bruders in Reading, um das Tier zu besuchen, Napoleon. Wir müssen ein wenig nachdenken. Möglicherweise Wales.«
Meint er Wales, dachte sie voller Panik, oder versucht er nur, die Spuren zu verwischen? Sascha hatte keinen Pass, zumindest keinen, von dem sie wusste, und Großbritannien war eine Insel. Aber in Wales gab es Fähren, nach Irland und vielleicht nach Frankreich.
»Bring ihn nach Hause«, befahl sie angsterfüllt. »Sofort, hörst du?«
»Ja, sicher. Wir können zurückkommen, wenn du willst. – Nicht wahr, Sascha?«
»Nein!«, hörte sie Sascha enttäuscht rufen. »Wir fahren zum Strand, Daddy.« Eine kurze Pause. »Können wir Napoleon auch mitnehmen? Und Mummy?«
Schweigen.
Dann fragte Anton sanft: »Willst du mitkommen? Ich habe reichlich Geld in meiner Brieftasche. Ich verwöhne dich, mache wieder gut, was … du weißt schon. Ein richtiger Familienausflug, ein nettes Hotel, Champagner, was immer du willst. – Rachel, bist du noch dran?«
Sie suchte verzweifelt nach einer harmlosen Antwort.
»Rachel?« Anton sprach noch leiser, eindringlich. »Ich bin kein schlechter Mensch, nicht tief im Innern. Ich liebe dich und Sascha, ich zeige es nur manchmal auf die falsche Art. Ich will mich bessern. Wir müssen die Vergangenheit
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