Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
sie ihn zwar nie, aber ganz Unrecht hatte er nicht, auch wenn er ein herablassender Blödmann war. Sie hatte ihren neuen Beruf aus verschiedenen Gründen gewählt, unter anderem aus der kranken Motivation heraus, anderen zu helfen. Und vielleicht hatte sie auch gehofft, dass ein Verstehen der menschlichen Psyche sie vor dem schützen würde, was mit Mama geschehen war. Vor allem, da ihr Gram über Forrests Tod sie fast hatte verrückt werden lassen.
»Ich bin nach Bath gekommen, um neu anzufangen. Alles in meinem Leben hatte sich verändert, und ich habe versucht, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Für eine psychotherapeutische Ausbildung habe ich mich unter anderem deshalb entschieden, weil sie in Bath ausgezeichnet ist.« Sie zögerte. »John und ich waren Kommilitonen. Aber das wissen Sie.«
»Ja, ja, natürlich waren Sie Kommilitonen.« In Angus’ Stimme schwang ein Körnchen Verärgerung mit, und er wedelte mit der Hand, als wolle er die Tatsache vom Tisch fegen, dass John und Madeleine seither glückliche Kollegen waren. Offensichtlich hatte er das von John mehr als einmal hören müssen.
John drückte ihr ein Cognacglas in die Hand, das so voll war, dass sie beide Hände um seine Wölbung legen musste, um es halten zu können. Vom Leuchter fiel ein Tropfen rosafarbenes Kerzenwachs auf einen ihrer Finger. Es brannte kurz, aber das Gefühl war angenehm. Warum war sie nach England zurückgekommen? Sie kannte die Antwort ihres Verstandes: Sie konnte den Anblick der Straßen, die sie mit Forrest entlanggegangen war, nicht ertragen, der Marina, wo ihr Hausboot gelegen hatte, der Bars, in denen sie getrunken und gegessen, und der Strände, an denen sie gelegen und sich geküsst hatten. Sie war nach Bath zurückgekommen, weil sie Mama vermisst und ein schlechtes Gewissen hatte, dass Rosaria sich selbst überlassen war. Aber sie wäre nicht nach Bath gezogen, wenn es nur nach ihr allein gegangen wäre. Oder irrte sie sich? Hatte sie noch immer gehofft, ihre Tochter zu finden?
»Tja«, murmelte sie und nahm wohl bemessene Schlückchen aus dem Cognacglas in ihren Händen, »ich kann mich anstrengen, so viel ich will, nie werde ich eine überzeugende Britin abgeben.«
»Stimmt«, nickte Angus ohne zu zögern. »Sie wirken aber auch nicht sonderlich amerikanisch. Haben Sie vielleicht einen anderen ethnischen Hintergrund?«
Lange hörte man nichts außer dem Klappern eines Korkuntersetzers, mit dem John ostentativ gegen den Tisch klopfte. Leise lächelnd sah Angus zu Madeleine hinüber und wartete.
»Ich werte Ihre Frage als Kompliment. Und ich hatte schon Angst, dass Sie mich zu amerikanisch finden könnten. John sagte, dass Sie die Nation und ihre Menschen nicht sonderlich mögen.«
Sie verzog herausfordernd das Gesicht, aber Angus lachte nur.
»Es sollte tatsächlich ein Kompliment sein. Ich meinte allerdings hauptsächlich Ihr Aussehen. So braunhäutig und dunkeläugig, dazu das gelockte Haar …«
Aus dem Augenwinkel heraus konnte sie sehen, wie Johns Kiefer heftig arbeitete. Er war durch und durch ein Softie, dem jede Art der Konfrontation zuwider war, aber selbst für ihn gab es Grenzen.
»Ich stamme wahrscheinlich von einer Hausangestellten aus Guatemala ab.« Sie stand auf und streckte sich, um ihre vom langen Sitzen steifen Glieder zu lockern. »Es liegt mir im Blut. Schauen Sie her.« Sie machte sich daran, die noch immer auf dem Tisch stehenden Teller einzusammeln.
»Nicht doch«, protestierte John und erhob sich halb, um ihren Arm zu greifen. »Lass das. Setz dich.«
»Nein. Ich bin fix und fertig«, antwortete sie und drückte ihn auf seinen Stuhl zurück. »Ich lade die Geschirrspülmaschine, und dann gehe ich ins Bett.«
»Nur über meine Leiche lädst du die Geschirrspülmaschine«, rief John. Schwankend erhob er sich, warf Angus einen zornigen Blick zu und legte Madeleine den Arm um die Schultern. »Komm mit mir, mein Schatz. Ich zeige dir dein Zimmer.«
Die Nacht war ruhig und still, nur ab und an schrie ein Nachtvogel. Madeleine zog die Bettdecke um sich. Eine leichte Brise blies kühle Nachtluft durch das offene Fenster. Sie hatte den Vorhang offen gelassen, um den Himmel sehen zu können. Eine große Eiche ragte hinter dem Campingbus auf. Ihre kahlen Äste waren ineinander verflochten, und die im Mondlicht vorbeiwandernden Wölkchen schienen durch ihre Zweige zu ziehen. Gebannt sah sie ihrem scheinbar endlosen Treiben zu.
Sie fühlte sich hellwach, als habe sie seit Wochen nicht
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