Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Brüsten, dass sie sie nachts fast erstickten.
Madeleine griff nach ihrer Uhr und entzifferte im schwachen Licht der Straße mühsam die Zeit. Es war halb sieben morgens. Das war das Problem bei dieser Reise mit Gina. Ihre Körperuhren liefen nicht synchron. Gina konnte schlafen ohne Ende, egal wann, wo und wie, wohingegen Madeleine kaum ein Auge schließen konnte, da mochte sie noch so müde sein. Ständig ging ihr etwas im Kopf herum. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, ein genauso dickes Fell wie ihre Freundin zu haben. Gina war die Gelassenheit in Person und ließ nichts an sich herankommen. Ihr Gewissen glich einer schrägen Eisfläche; alles glitt einfach daran ab. Die Bedeutung von Schuld, Verantwortung, Pflicht war ihr unbekannt.
Dann und wann versuchte Madeleine sie zu zwingen, ihre Eltern in Key West anzurufen, aber schließlich war sie dazu übergegangen, ihre Nachbarin zu bitten, bei Ginas Eltern vorbeizugehen und ihnen auszurichten, dass sie noch lebe. – Allerdings sitze sie ohne Geld da, ob sie ihr weiteres Geld schicken könnten. Sie hatten beide nur einen jämmerlichen Rucksack, zwei Unterhosen, eine Jeans, eine kurze Hose, ein Sommerkleid, zwei T-Shirts und einen Kamm mitgenommen. Madeleine hatte vor der Reise einige Monate schwarz im Sloppy Joe’s gearbeitet und in einem Geldgürtel, den sie auf der Haut trug, fünfhundert schwer verdiente Dollar versteckt. Aber Ginas Geld war aufgebraucht. Sie war dazu übergegangen, eine Stunde täglich auf den Straßen zu betteln, wozu Madeleine auf gar keinen Fall bereit war, nie und nimmer. Madeleine seufzte laut auf. Wäre sie an diesem Tag doch nur bei ihrer Familie. Sie war seit über einem Jahr nicht mehr in Bath gewesen und hatte Mama seither nicht mehr gesehen … und Mikaela. Es war zu schwer, zu seltsam. Die Kleine – ihre eigene Tochter – kannte sie nicht mehr, und Mama schien es so lieber zu sein. Alles in allem war sie in vier Jahren nur drei Mal in Bath gewesen, und jedes Mal hatte sie ihr Aufenthalt unglaublich deprimiert.
Aber von ihrem Geburtstag hätte man sicher viel Aufhebens gemacht. Neville und Elizabeth hätten eine Party für sie gegeben; Elizabeth liebte es zu feiern. Sie hätte einen scheußlichen, gigantischen Geburtstagskuchen mit einundzwanzig Kerzen bestellt und ihr Geld und Kleidung geschenkt. Die beiden hatten gerade geheiratet und waren in eine teure Wohnung in Knightsbridge, London, gezogen.
Die Sonne erhitzte bereits die Pflastersteine, aber in den Straßen war es still bis auf die schrillen Rufe eines Mannes, der aus einem winzigen weißen Lieferwagen Brot verkaufte. Frauen in Morgenmänteln öffneten verschlafen die Tür und reichten dem gutaussehenden, aber unrasierten Mann mit den schmutzigen Fingernägeln Geld für warme Brote und Tüten mit süßem Gebäck. Madeleine rannte hinter dem Lieferwagen her und gab dem Mann eine Handvoll kleiner Münzen. Er legte zwei riesige Fladenbrote in ihre Arme.
» Hoy es mi cumpleaños«, sagte sie aus einer Laune heraus.
Er lachte. »Que edad tienes, niña?«
»Veinti uno«, antwortete sie stolz und fragte sich, ob der einundzwanzigste Geburtstag in diesem Land möglicherweise kein besonderer Anlass zum Feiern war.
»Enhorabuena.«. Er verbeugte sich theatralisch aus der Taille heraus und hielt ihr einen kleinen Kuchen hin.
Langsam wanderte sein Blick an ihren nackten Beinen hinab. Eine Sekunde sah es so aus, als wollte er sie auffordern, mit ihm hinten in den Lieferwagen zu steigen. Hätte sie sich auf das knusprige, süß duftende Brot gelegt und ihm erlaubt, sie zu lieben? Der Gedanke, auch wenn er sich schnell wieder verflüchtigte, schockierte sie. Es war viele, viele Jahre her, dass sie flachgelegt worden war. Aber auch wenn sie niemanden sonst hatte, der Notiz davon nahm, dass sie mündig wurde – einem Fremden würde sie sich deshalb noch lange nicht hingeben. Das war Ginas Spezialität.
Sie nahm den kleinen Kuchen, zog das klebrige Papier ab und verspeiste ihn genüsslich auf dem Weg durch die schmalen Gassen zum Marktplatz, an dessen genaue Lage sie sich nicht mehr erinnerte. Sie fand ihn schließlich und auch die Telefonzelle, die nach abgestandenem Bier und Zigaretten roch. Auf dem Boden stand eine halbleere Weinflasche. Nur Touristen würden so etwas tun, dachte sie naserümpfend. Die verdammten Gringos.
Beim Wählen von Mamas Nummer ließ sie die Tür offen. Es läutete lange, aber Mama meldete sich nicht. Niemand ging an den Apparat. Wie spät war es
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