Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
geschlafen. Vor sechs Tagen hatte sie Rachel das letzte Mal gesehen und seither kaum ein Auge zugemacht. Sie wusste, dass sie alles Mögliche in Rachels Therapieabbruch hineininterpretierte, etwa dass Rachel selbst ihre Verwandtschaft mit Madeleine entdeckt hatte und deshalb wegblieb. (Wer würde das nicht tun?)
Ständig legte sich Mikaelas blasses Gesichtchen über Rachels reife Gesichtszüge, und je mehr Madeleine darüber nachdachte, desto stärker war sie von der Ähnlichkeit überzeugt. Vom Verstand her wusste sie, dass sie sich einer unbegründeten Fantasie hingab, aber etwas in ihr sträubte sich gegen die Einsicht, dass sie sich irrte. Rachel konnte durchaus ihre verlorene Tochter sein – zumindest stimmten ihr und Mikaelas Geburtstag überein.
Schon der Gedanke wirkte auf sie, als hätte man sie wachgerüttelt. Ihre Sinne waren geschärft. Sie hörte, sah und spürte Dinge, die man normalerweise gar nicht wahrnehmen konnte, aber sie schien keine Kontrolle darüber zu haben. Es war, als liefe sie auf Eis und würde rutschend und taumelnd in einen Abgrund gezogen. Warum das so war und wohin es führte, konnte sie nicht ergründen.
Noch etwas anderes beunruhigte sie. Sollte Rachel wirklich ihre Tochter sein, würde sie Madeleine niemals als Mutter akzeptieren. Sie würde entsetzt sein, gedemütigt, dass sie ihr so viele intime Dinge aus ihrem Leben gebeichtet hatte – ihre sexuelle Hörigkeit, die Prostitution, die Drogen, ihr Zusammenbruch. Wie sie Rachel kannte, würde sie zornig sein, noch zorniger, als sie bereits war. Wütend. Außer sich. Und unversöhnlich. Madeleine würde mit einem weiteren Verlust fertigwerden müssen, der unerträglich schien.
Sie musste zur Ruhe kommen. Ohne Schlaf war sie für niemanden nütze, am allerwenigsten für sich selbst. Normalerweise wurde sie von Wein todmüde, aber in den letzten Wochen schien er die gegenteilige Wirkung zu haben. Ihr fiel das Temazepam ein, mit dem John sie zum Cottage gelockt hatte. Der gute alte John, entweder hatte er es vergessen, oder Angus hatte sich geweigert, etwas davon abzugeben; die Leute waren zuweilen merkwürdig, wenn es um ihre Medikamente ging. Nun wünschte sie sich verzweifelt, ein paar Tabletten davon zu haben. Die Nacht würde sich entsetzlich in die Länge ziehen. Sie hatte keinerlei Ahnung, wie spät es war, konnte sich aber auch nicht aufraffen, nach ihrer Uhr zu suchen.
Vermutlich war sie eingenickt, denn als sie das nächste Mal zum Himmel blickte, hatten sich die Wolken zerstreut, und die Zweige der Eiche wurden von blauem Licht angestrahlt. Die Vögel waren still geworden. Sie hob den Kopf, um besser sehen zu können. Das Cottage lag im hellen Mondlicht. Es sah uralt und verlassen aus, wie die Ruine, die es einst gewesen war. Es war merkwürdig sich vorzustellen, dass in einem seiner Zimmer zwei wohlgenährte Männer in liebevoller Umarmung glücklich schliefen.
Eine tiefe Einsamkeit überkam sie, aber sie tat das Gefühl mit einem Schulterzucken ab. Sie hatte einen Bestseller mitgenommen, einen zähen Szeneroman, dessen Protagonisten weder Arbeit noch Ehrgeiz hatten, als wären das uncoole Verirrungen und das wirkliche Leben fände in trendigen Bars, Kokshöhlen und spärlich möblierten Loft-Apartments statt. Sie hatte auch noch The Myraculous bei sich, ihr Lieblingsameisenmagazin, das einen spannenden Bericht über eine neuentdeckte Art von Blattschneiderameisen in den Tiefen des amazonischen Regenwaldes enthielt.
Aber ihr fehlte jeder Antrieb. Sie hatte die Kontrolle über ihre Glieder verloren und besaß nicht die Energie, das Licht anzuschalten und ihr Lesematerial zu suchen. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Sie schloss die Augen.
***
Sie erwachte und fragte sich, wo sie war. Es war heiß, unerträglich heiß. Sie lag auf einem schmalen Bett, und irgendwo im Raum schnarchte jemand. Ein Vorhang flatterte durch das offene Fenster nach draußen. Sie konnte eine Mischung aus Dieselabgasen, Seesalz und Abwasser riechen und erinnerte sich sofort. Sie war in der Jugendherberge (sie glich eher einem Obdachlosenheim) von Veracruz in Mexiko.
Heute war doch irgendetwas los, etwas Besonderes. Ja, jetzt erinnerte sie sich: Es war ihr einundzwanzigster Geburtstag. Heute würde sie den Status einer Erwachsenen erhalten.
Das Schnarchen brach ab, es folgten ein langer Seufzer und ein Stöhnen: ein Bett quietschte, und das nasale Rasseln begann erneut. Es war ihre beste Freundin Gina, ein dickes Mädchen mit so riesigen
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