Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
dort drüben überhaupt? Schließlich schaltete sich ein Anrufbeantworter ein. Zu ihrer Bestürzung hörte sie Nevilles Stimme sagen: »Dies ist der Anrufbeantworter von Rosaria Frank. Sie ist unter dieser Nummer nicht länger erreichbar, aber bitte rufen Sie …«
Was? Das war doch Nevilles eigene Nummer! War Mama zu Papa gezogen? Es war zwar noch nicht lange her, dass er Elizabeth geheiratet hatte, aber wer weiß, vielleicht war ihm die große Erleuchtung gekommen, oder Elizabeth hatte ihn verlassen, und Mama und Papa waren wieder zusammen? Madeleines Herz setzte kurz aus, und ein warmes Gefühl überkam sie. Was für ein Geburtstagsgeschenk das wäre! Schnell wählte sie Nevilles Nummer. Es klingelte. In der Leitung knackte es.
»Neville«, schrie sie. »Neville?«
»Madeleine«, brüllte Neville. »Gott sei Dank. Gott sei Dank, dass du anrufst.«
»Du hast dir doch keine Sorgen um mich gemacht, oder?«, fragte sie ein wenig verdutzt.
»Nein, Schatz, aber du solltest wirklich häufiger anrufen. Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten.«
Trotz der morgendlichen Hitze lief es ihr kalt über den Rücken, und in ihren Gliedern kribbelte es.
»Was? Was für schlechte Neuigkeiten?«
»Du musst kommen. Hast du Geld? Wo bist du? Ich besorge ein Ticket, wenn du das nicht kannst.«
»Was zum Teufel ist denn los, Neville?« Als er schwieg, rief sie: »Neville, bist du noch dran?«
»Ja, ja. Ich höre dich laut und deutlich. Weißt du, deine Mutter … ist eingeliefert worden. Vor etwa fünf Wochen. Ich habe es erst am Tag nach deinem letzten Anruf erfahren. Ich konnte dich nicht erreichen, um es dir zu sagen. Mikaela … wurde bei einer Pflegefamilie untergebracht. Keine Angst, keine Angst, es sind ausgezeichnete Leute.«
»Neville«, schrie sie, »was soll das heißen? Was bedeutet das: eingeliefert?«
»Na ja, sie befindet sich in einer psychiatrischen Klinik. Sie hatte eine Art Zusammenbruch.«
O Gott. Die schrecklichsten Szenarios standen ihr vor Augen. Sie schüttelte den Kopf. Nein, es musste eine einfache Erklärung geben. Vielleicht hatte Mama gezaubert und jemand hatte sie angezeigt. Und deshalb hielt man sie für verrückt. Von der Santeria verstand niemand dort etwas. Ja, irgendetwas in der Art musste geschehen sein.
»Mein Gott, Neville. Die arme Mama. Du musst Micki holen.«
»Ihr geht es gut. Sie ist bei sehr netten Leuten. Deine Mutter ist diejenige, um die ich mir Sorgen mache.«
»Ja, aber hol Mikaela. Lass sie nicht bei Fremden.«
»Ihr geht es gut, Baby. Sie ist dein Problem, nicht meins.«
»Was soll das denn heißen?«
»Madeleine! Mach gefälligst, dass du nach England kommst. Ich habe eine Ausstellung in Tokio.«
»Ich komme ja! Aber geh und hol Micki. Du kannst sie doch nicht Pflegeeltern überlassen.«
»Madeleine! Ich muss übermorgen in Tokio sein. Ich habe bitte schön eine verdammte Vernissage. Ich buche von hier aus ein Ticket für dich. Wo zum Teufel steckst du überhaupt?«
»In Mexiko.« Tränen standen ihr in den Augen. »Beruhige dich, Neville. Erklär mir, was mit Mama passiert ist. – Neville?«
»Ja, ich bin noch dran … Es scheint schon eine ganze Weile etwas im Schwange gewesen zu sein. Die Nachbarn haben beim Sozialamt angerufen. Sie hatte alle Fensterscheiben schwarz angemalt und die Möbel in die Garage getragen und verbrannt. Im Garten hat sie tote Hühner und anderes totes Getier in die Bäume gehängt. Sie hat Selbstgespräche geführt und das Haus offensichtlich wochenlang nicht mehr verlassen. Weiß Gott, was dort alles vorgegangen ist.«
Madeleine erstarrte. Das klang nicht nach Mama. Es machte ihr Angst.
»Und du? Du hattest mir doch versprochen, dass du immer für die beiden da sein würdest. Jede Woche, hast du gesagt, würdest du sie besuchen. Aber sie sind dir wohl egal, was?«
»Nun fasse dich mal an die eigene Nase, Madeleine. Wie sieht es denn mit dir aus? Du hast deinen Spaß auf der Kunsthochschule und treibst dich in den Ferien in Mexiko herum. Wie wäre es, wenn du ein wenig Verantwortung übernehmen würdest? Schließlich ist Rosaria deine Mutter, und du bist kein kleines Kind mehr.«
»Nein«, erwiderte Madeleine finster. »Ab heute tatsächlich nicht mehr.«
»Sieht so aus, nicht?«
»Aus dem Grund hatte ich eigentlich angerufen.«
»Was meinst du damit?«
»Heute ist mein einundzwanzigster Geburtstag.«
»O Scheiße. Stimmt das wirklich?«
»Wen kümmert’s.«
»Dann alles Gute zum Geburtstag. Was soll ich sonst sagen?
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