Erdbeermond: Roman (German Edition)
es in ihren Büchern gelesen, aber es war interessant, es aus ihrem eigenen Mund zu hören.
Ich wusste auch, was danach passiert war. Ihre Mom beschloss, sie nicht länger als Verrückte zu betrachten, und fing an, Auftritte für sie zu organisieren. Jetzt arbeitete ihre gesamte Familie für sie. Ihr Dad als ihr Fahrer, ihre kleine Schwester als Manager, und der Exehemann arbeitete zwar nicht für sie, aber er prozessierte gegen sie und verlangte Millionen, das war also fast genauso gut.
»Viele Menschen sagen, sie hätten gern seherische Fähigkeiten«, fuhr Neris fort, »aber wissen Sie, das ist eine harte Sache. Ich nenne es einen gesegneten Fluch.«
Dann wurden Ausschnitte aus einer ihrer Liveshows gezeigt. Neris stand auf einer riesigen Bühne, ganz allein, und sah sehr klein aus. »Ich habe … Ich bekomme Signale von … Ist heute Abend jemand hier, der Vanessa heißt?«
Die Kamera machte einen Schwenk über die Reihen von Zuschauern, und irgendwo ganz hinten hob eine gedrungene Frau die Hand und stand auf. Sie sagte etwas, was nicht zu hören war, und Neris sagte: »Warten Sie einen Moment, bis ein Mikrofon bei Ihnen ist.«
Ein Mikrofonträger schob sich zwischen den Sitzen hindurch. Als die gedrungene Frau das Mikrofon in der Hand hielt, sagte Neris: »Sagen Sie uns Ihren Namen? Sie heißen Vanessa?«
»Ja, ich heiße Vanessa.«
»Vanessa, Scottie möchte Ihnen Guten Tag sagen. Sagt Ihnen das etwas?«
Tränen flossen Vanessa über die Wangen, und sie murmelte etwas.
»Können Sie das noch einmal sagen?«
»Er war mein Sohn.«
»Das stimmt, und er möchte Ihnen sagen, dass er nicht gelitten hat.« Neris hob die Hand ans Ohr und sagte: »Er möchte, dass ich Ihnen sage, Sie hatten Recht mit dem Motorrad. Sagt Ihnen das etwas?«
»Ja.« Vanessas hielt den Kopf gesenkt. »Ich habe immer geschimpft, weil er zu schnell gefahren ist.«
»Das weiß er jetzt selbst. Er sagt, ich soll Ihnen ausrichten: ›Mom, du hattest Recht‹. Sie haben also das letzte Wort in dieser Sache, Mom.«
Irgendwie musste Vanessa trotz ihrer Tränen lächeln.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?«, fragte Neris.
»Ja, danke, vielen Dank.« Vanessa setzte sich wieder.
»Nein, danke, dass Sie uns an Ihrer Geschichte teilhaben ließen. Wenn Sie das Mikrofon wieder …«
Vanessa hielt das Mikrofon mit eiserner Klaue umfasst und gab es nur widerstrebend ab.
Dann zeigte das Bild wieder Neris im Sessel, und sie sagte: »Die Menschen, die in meine Shows kommen, fast alle, möchten etwas von ihren Lieben, die gestorben sind, erfahren. Diese Menschen leiden schreckliche Seelenqualen, und ich empfinde ihnen gegenüber eine Verantwortung. Aber manchmal«, und an der Stelle lachte sie, »wenn allzu viele Stimmen zu mir durchdringen wollen, dann muss ich sagen: ›Mal langsam, meine Lieben, einer nach dem anderen, stellt euch schön an.‹«
Ich war gebannt. Wie sie es erzählte, klang alles so normal, so möglich. Und ich war berührt von ihrer Demut. Wenn jemand für mich mit Aidan Kontakt aufnehmen konnte, dann diese Frau.
Wieder zurück zu einem Live-Auftritt. Sie hatte ein anderes Kleid an, also musste es eine andere Show sein. Von der Bühne aus sagte sie: »Ich habe eine Nachricht für Ray.« Sie ließ den Blick über den Saal gleiten. »Haben wir hier einen Ray? Kommen Sie, Ray, wir wissen, dass Sie da sind.«
Ein großer Mann erhob sich. Er hatte ein riesiges kariertes Hemd an, und seine Haare waren zu einer Tolle frisiert, die mit glänzender Pomade in Form gehalten wurde. Er sah peinlichst berührt aus.
»Sie sind Ray?«
Er nickte und nahm das Mikrofon vorsichtig entgegen.
»Ray«, sagte Neris lachend, »ich höre hier, dass Sie an den ganzen Zinnober nicht glauben. Stimmt das?«
Ray sagte etwas, was wir nicht hören konnten.
»Sprechen Sie bitte in das Mikro.«
Ray beugte sich vor und sprach überdeutlich, als wäre er unter Eid bei einem Mordprozess: »Ja, Madam, das stimmt.«
»Und Sie wollten heute Abend nicht mitkommen, richtig?«
»Ja, Madam, das ist richtig.«
»Aber Sie sind doch gekommen, weil jemand Sie gebeten hat, richtig?«
»Richtig, Madam. Leeanne, meine Frau.«
Die Kamera zeigte die Frau neben ihm, eine kleine verschrumpelte Frau mit blonden Haaren, die wie Zuckerwatte aussahen. Anscheinend Leeanne.
»Wissen Sie, von wem ich das alles erfahren habe?«, fragte Neris.
»Nein, Madam.«
»Von Ihrer Mama.«
Ray schwieg, er machte ein verschlossenes Gesicht – ein gestählter Redneck, der keine
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