Erdbeermond: Roman (German Edition)
die Leitung und trat erregt gegen die Stufe und dachte: Wen, wen, wen? Von den Echten Männern kam keiner in Frage. Der Einzige, der alleinstehend war, war Gaz, und der würde mich vielleicht zu »heilen« versuchen, indem er mich in Brand steckte.
Dann wusste ich es. Es sollte nicht Mitch sein. Es sollte Nicholas sein.
Der süße kleine Nicholas. Genau der.
Ich rief ihn bei der Arbeit an: Seine Voicemail antwortete. Ich wählte die Nummer seines Handys: Ich kriegte nur seine Mailbox. Dann musste er zu Hause sein. Ich wählte seine Privatnummer, und sein Anrufbeantworter sprang an.
Ich konnte es nicht fassen. Ich konnte es einfach nicht fassen. Ich brauchte ihn. Warum wurden mir lauter Hindernisse in den Weg gelegt?
Mitten in meinem Zorn fiel mir etwas ein. Mit zitternden Händen nahm ich meine Handtasche, leerte den gesamten Inhalt auf der Stufe aus und durchwühlte den ganzen Kram nach einem Stückchen Papier. Eigentlich glaubte ich nicht, dass ich es finden würde. Aber ich musste es finden.
Und da war es auch. Ein kleiner, zusammengerollter Zettel. Mein Lebensretter: Angelos Telefonnummer. Angelo, den ich an dem einen Morgen bei Jenni’s getroffen hatte.
Aber auch bei Angelo ging niemand dran. »Ich bin im Moment nicht hier. Sie wissen, was zu tun ist.«
»Angelo, hier ist Anna, ich bin Rachels Schwester, wir haben uns einmal morgens bei Jenni’s gesehen und dann noch mal auf der 41 sten Straße West. Kannst du mich anrufen?«
Ich gab meine Handynummer an, schaltete ab, sammelte den ganzen Krempel wieder ein und setzte mich auf die Stufe. Mir fiel niemand sonst ein. Ich kannte niemanden. Vielleicht sollte ich einfach zur Arbeit gehen.
Dann, wie eine Erlösung, klingelte das Telefon. Einer rief zurück! Wer wohl? »Hallo?«
Aber es war Kevin, und er klang wie ein Verrückter. »Anna, ich bin hier, an der Penn Station. Wir müssen miteinander reden.«
»Es ist schon gut, Kevin, ich weiß alles.«
»Scheiße. Ich wollte es dir in aller Ruhe erzählen! Aber mach dir keine Sorgen. Wir kämpfen um das Sorgerecht, und das kriegen wir auch! Wir ziehen ihn zusammen groß, du und ich, Anna. Wo sollen wir uns treffen?«
»Wo wohnst du denn?«
»Im Benjamin.«
»Geh zu deinem Hotel, ich komme dahin.«
Es war also weder Mitch noch Nicholas noch Angelo. Es war Kevin. Wer hätte das gedacht?
Ich hielt ein Taxi an und stieg ein. »Hotel Benjamin. 50ste Straße East.« Dann nahm ich wieder den Umschlag und betrachtete das Foto, das erst vor vier Tagen gemacht worden war, und ich versuchte, die Folge der Ereignisse zu verstehen. Wann hatte ich Aidan kennen gelernt? Ab wann war unsere Beziehung exklusiv gewesen? Wie alt genau war dieses Kind? Er sah aus wie anderthalb, aber er konnte groß sein für sein Alter oder klein. Wenn er, sagen wir, erst sechzehn Monate alt war, was bedeutete das dann? Wäre es schlimmer, wenn er neunzehn oder zwanzig Monate alt war? Vielleicht war er eine Frühgeburt. Aber in meinem Kopf ging alles durcheinander, und ich konnte nicht mehr rechnen. Fast hatte ich es, dann wirbelte alles wieder durcheinander.
Als mein Handy klingelte, hätte ich es beinahe nicht gehört, weil es so tief in meiner Handtasche vergraben war.
»Hi«, sagte eine Stimme. »Angelo hier. Du hast mich angerufen?«
»Angelo! Ja. Ich bin Anna, Rachels Schwester, wir haben uns …«
»Klar, ich erinnere mich an dich. Wie geht es dir?«
»Sehr, sehr schlecht.«
»Sollen wir uns auf einen Kaffee treffen?«
»Wo bist du jetzt?«
»In meiner Wohnung. 16te, zwischen der 3en und 4ten Avenue.«
Ich sah aus dem Auto und schaffte es, ein Straßenschild zu lesen: Wir waren auf der 14ten.
»Ich bin in einem Taxi, zwei Blocks von dir entfernt«, sagte ich. »Kann ich vorbeikommen?«
Offenbar war es doch nicht Kevin, sondern Angelo.
ZWEI
Die Türklingel weckte mich auf – jede einzelne Zelle meines Körpers kriegte einen solchen Schock, dass ich dachte, ich bekäme einen Herzanfall. Ich hatte mich mit dem Foto des kleinen Jungen auf der Brust hingelegt und musste eingedöst sein. Ich stellte mich auf meine wackligen Beine, als es wieder klingelte. Großer Gott! Wie spät war es? Kurz nach acht. So früh am Morgen konnte es nur ein Mensch sein: Rachel.
Angelo hatte sie am Tag zuvor angerufen, als ihm klar wurde, dass er eine komplett Wahnsinnige in seiner Wohnung hatte. Sie war mit Luke gekommen, ich hatte ihnen lauter wirres Zeug erzählt von dem Foto und dem Brief, und sie bestanden darauf, beides zu sehen. Dann
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