Erdbeermond: Roman (German Edition)
sah, war ein Foto an der Wand von einem jüngeren Aidan, der von hinten die Arme um ein Mädchen geschlungen hatte und ihren Rücken an seine Vorderseite drückte. Ich wusste sofort, dass dies Janie war. Und wie sah sie aus? Na ja, strahlend und glücklich, so wie Leute immer auf Fotos aussehen. Wenigstens auf Fotos mit verzierten Silberrahmen. Ich fühlte mich etwas zittrig, noch bevor ich bemerkte, dass sie schön war: lange, dunkle Korkenzieherlocken (deren Schönheit nicht einmal von einem Pferdeschwanz und einem grünen Gummiband verschandelt wurde), ebenmäßige Zähne, ein breites Lächeln.
Aber das Foto war, dem Gummiband und dem jugendlichen, unschuldigen Aidan nach zu urteilen, offensichtlich vor langer Zeit gemacht worden, und vielleicht war sie rasch gealtert.
Jemand rief: »Dad, sie sind da«, und eine Tür ging auf, aus der ein junger Mann trat: dunkel, schlank, reizendes Lächeln, außerordentlich niedlich. »Hi, ich bin Kevin, der jüngere Bruder.«
»Ich bin Anna …«
»Oh ja, wir wissen alles über dich.« Er strahlte mich an. »Wow. Gibt es noch mehr wie dich bei euch?«
»Ja.« Ich dachte an Helen. »Aber die würde dir wahrscheinlich Angst machen.«
Er merkte nicht, dass das kein Witz war, und lachte aus vollem Halse. »Du bist echt komisch. Bestimmt wird es lustig mit dir.«
Dann trat Mr. Maddox in Erscheinung, ein schlaksiger Mann mit einer undefinierbaren, auf und ab schwingenden Stimme. Er schüttelte mir die Hand, sagte aber kaum etwas. Ich nahm es nicht persönlich: Aidan hatte mir schon erklärt, dass sein Vater, wenn er sprach, über die Demokratische Partei sprach.
Kevin bestand darauf, mir meine Tasche in mein Schlafzimmer zu tragen, ein Zimmer, das seine Entsprechung in dem Gästezimmer im Haus meiner Eltern hatte. Es hätte ein Kulturaustausch sein können, mit einem Schild an jedem Zimmer, das darauf hinwies: Es gab bunt gemusterte Vorhänge, einen dazu passenden bunt gemusterten Quilt und einen Schrank, voll mit den Sachen eines anderen, in dem noch ungefähr zwei Zentimeter Platz und zwei Bügel für meine Sachen waren. Zum Glück blieb ich nur eine Nacht. (Aidan und ich wollten lieber kein Risiko eingehen und den ersten Besuch kurz halten.)
Dann sah ich es. Auf der Frisierkommode: noch ein Bild von Aidan und Janie. Ein Schnappschuss – sie waren einander zugewandt, und das Foto war eine halbe Sekunde, bevor sie sich küssten, gemacht worden. Dieses Mal trug sie kein Gummiband, und ihr Haar wurde von Aidans Hand zurückgehalten.
Wieder war mir leicht übel, und nachdem ich es ein paar Minuten betrachtet hatte, legte ich es mit der Vorderseite auf den Tisch. Ich würde nicht in einem Zimmer schlafen, wo Aidan und Janie vor dem Kuss über mich wachten. Ein leichtes Klopfen an der Tür, ich machte einen schuldbewussten Satz, und Dianne rauschte herein, die Arme voller Sachen. »Frische Handtücher!« Sofort fiel ihr das umgelegte Bild auf. »Mist! Oh Anna! Es steht da schon seit Jahren, ich sehe es gar nicht mehr. Wie taktlos von mir.«
Sie nahm es, ging aus dem Zimmer und kam ohne das Bild zurück.
»Es tut mir Leid«, sagte sie, »ehrlich.«
Sie war keine Neuauflage von Mrs. Danvers, ihr schien es aufrichtig Leid zu tun.
»Kommen Sie runter, wenn Sie fertig sind; wir essen dann.«
Das Essen war ein komplettes Thanksgiving-Dinner mit einem riesigen Truthahn, kiloweise Kartoffeln und Gemüse, dazu Wein und Champagner und Kristallgläser und Kerzen, es fehlte an nichts. Die Atmosphäre war sehr freundlich, ich war mir fast ganz sicher, dass Mrs. Maddox nicht in meine Suppe gespuckt hatte, alle plauderten miteinander, und als Mr. Maddox einen Witz über die Demokraten machte, lachte ich pflichtschuldig, obwohl ich ihn nicht verstand.
Nur eins verstörte mich: Auch wenn nicht jedes der vielen Fotos an den Wänden des Esszimmers Aidan und Janie zeigte, so waren es doch einige, und ich hatte lauter kleine Schocks. Im Laufe der Jahre wurden Janies Haare kürzer. Gut. Männer mögen Frauen mit langen Haaren. Und sie war etwas rundlicher geworden, aber sie sah immer noch sehr fröhlich und freundlich aus – eine Frau, wie andere Frauen sie mögen.
Als ich gerade einen Bissen Truthahn kaute, erblickte ich ein weiteres Foto, das mir bis dahin entgangen war, und wieder verschloss sich meine Kehle einen Moment lang. Ich nahm einen Schluck Wein, um den Bissen herunterzubefördern, und in dem Moment fragte der alte Maddox: »Janie, Liebes, reichst du mir mal die
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