Erdwind
Klinge, so daß sie wieder blank war.
Moir schluchzte krampfhaft zuckend, doch so leise, daß niemand ihren Schmerz vernahm. Sie hielt Elspeth umschlungen, und Elspeth merkte auf einmal, daß sie aus Mitgefühl mit dem Mädchen ebenfalls weinte. Sie sah, wie der Sieger stolz das glimmende Feuer umschritt und Engus’ starräugiges Haupt am langen Haar herumschwenkte. Er war jedoch so taktvoll, daß er die Trophäe verbarg, als er Elspeth tränenüberströmt hinunterblicken sah und Moir in ihren Armen erkannte. Er wandte sich ab.
Als sich die Menge, vorwiegend wortlos, zerstreute, versuchte Elspeth, ihre Gefühle über das, was sie gesehen oder besser, wobei sie zugesehen hatte, zu analysieren. Wie konnte sie Darren böse sein? Was er getan hatte, gehörte zu seinem Ritual-Erbe, es war völlig natürlich und mit jedermann im Einklang, Moir eingeschlossen. Und doch – welche Bösartigkeit, welch ein primitives Verhalten! Sie wurde sich bewußt, und nicht zum erstenmal, wie sie sich eingestehen mußte, daß ihr der Gedanke, mit einem solchen Barbaren so etwas wie einen Liebesakt vollzogen zu haben, höchst unsympathisch war. Doch das war vermutlich Kultursnobismus.
Sie durfte es Darren eigentlich gar nicht so schrecklich übelnehmen, daß er einen Freund auf so groteske Weise enthauptet hatte, doch beim Anblick seines Triumphes wurde ihr regelrecht schlecht. Wieder und wieder hatte sie diesen letzten grausamen Hieb vor Augen – ein Hieb nur! Welch eine Kraft! –, und jedesmal starrte sie der durch die Luft wirbelnde Kopf immer obszöner an, spritzte das Blut (es war nur ein kurzes Aufsprudeln gewesen, viel weniger, als sie sich eingebildet hatte) näher an sie heran. Auch die Erinnerung an Darrens Gesicht verfremdete sich, sein Grinsen, sein triumphierendes Lächeln schien ihr eher verzerrt als nur übertrieben sieghaft.
Sie mußte sich übergeben und wandte sich ab von Moir, die jetzt still geworden war, ganz still, totenstill.
Das ist Angst, dachte sie, als sich ihr revoltierender Magen endlich beruhigte. Das ist richtige Angst, das Ursymptom der Angst, ein ganz neues Erlebnis. Bei meinem zweiten Besuch hier – Wundschmerz, Angstschmerz. Wachse ich oder schwinde ich, wenn ich hierbleibe? Erlange ich die wahre Menschlichkeit oder verliere ich sie? „Elspeth …?“
Vor Jahren, auf dem Neu-Anzar:
Sie waren bis ans Ende der Stadt gegangen. Jetzt schritt die Familie durch den transparenten Tunnel, der über die Eisflut führte. Ihre Mutter weinte; ihr Bruder hielt die alte Dame aufrecht in den Armen und konnte selbst die Tränen nur schwer zurückhalten. Ab und zu warf er einen Blick auf Elspeth. Sie schritten den Weg der Schandbefleckten.
Mein Vater hat Schande über sich gebracht; ich sollte ihn verachten, ich sollte ihn beschimpfen, seine Ohren mit meiner Verachtung, meinem Haß füllen; doch wie kann ich das? Ich liebe ihn. Alex müßte ihn schlagen, sich für seine eigene Schande an dem Manne rächen, der sie verursacht hat Wegen dieses Mannes werden wir immer in Schande leben, und auf diesem Gang zum Tode sollten wir die Gelegenheit nutzen, ihn zu schlagen, unseren Gefühlen, unserem verwundeten Stolz Luft machen. Aber wie können wir das? Wir lieben ihn doch alle.
Ein alter Mann, der die Höhe des Mannesalters um zwanzig Jahre überschritten hat, gebeugt jetzt, doch nicht vom Alter, sondern von der Schande. Er schritt voran, den leeren Tunnel entlang, manchmal zur Seite oder nach oben blickend, in die treibenden Eisnadeln, den wirbelnden Schnee. So weit nördlich, im unbewohnten Außenbezirk der Clan-Stadt, gab es keine Wärme, weder Gefühlswärme noch physische. Niemand wohnte hier, nicht einmal ein Einsiedler. Kein Mensch betrat diesen Tunnel, außer denen, die nicht verdienten, zurückzukehren.
Mein Vater … mein armer Vater. (So klar erinnerte sie sich an diesen Tag, mit Tränen, wenn nicht in den Augen, so doch im Geiste. So bald nach ihrer Initiation, so bald nach ihrem stolzesten Tag …)
„Ich habe Schande über meinen Rang gebracht“, hatte er zu ihnen gesagt. „Ich kann diese Forderung nicht annehmen. Ich habe keinen Mut mehr.“
Keinen Mut mehr! Ein Mann, der in den nördlichen Clan-Kämpfen gefochten hatte, der – noch früher – mit denen sterben wollte, die den Elektranern widerstanden hatten, der bei seiner Freilassung öffentlich geschworen hatte, daß er nie vergessen würde, was den Männern und Frauen angetan worden war, die gegen die Invasoren gesprochen hatten?
In
Weitere Kostenlose Bücher