Erdwind
Elspeths Kopf saßen sie fest, doch was Ashka von ihnen wußte, reichte gerade aus, um ihn zu verunsichern. Aber den Erdwind hatte er gesehen, und auch er hatte eine seltsame, aufrührende Unruhe verspürt – ein psycho-parasitäres Symptom? – ein ungemütliches Gefühl von Vertrautheit und unwillkommener Verzückung, als seine Augen den komplizierten Spiralen folgten. Vielleicht, hatte er lächelnd gesagt, vielleicht war jener riesige Tumulus nicht errichtet worden, um Menschen zu bestatten, sondern um den Erdwind zu bestatten. Ein Denkmal vielleicht oder ein Gefängnis … ein Symbol, das sie jahrelang gebraucht hatten, war vielleicht hier, einmal nur, für die Ewigkeit eingemeißelt und dann weggeschlossen worden.
Damals in Newgrange, als die Symbole eingemeißelt wurden, fiel am Tage der Wintersonnenwende das Licht der aufgehenden Sonne in die Kammer mit dem Erdwind-Symbol: Sonnenstrahlen griffen über hundert Fuß tief in die Erde und berührten das Grab der Spirale an diesem einen Tag im Jahr.
So verehrt? Oder so gefürchtet?
Der Gedanke gefiel ihr. Der zerfallende Tumulus im Urwald, in den Moir sie hineingeführt hatte, um Zugang zur Feuer-Halle zu gewinnen … dort war auch eine Doppelspirale eingemeißelt. Dieselbe? Der Erdwind? Bei der Menschenasche, die sie gefunden hatte, mochte es sich hier und in Newgrange um eine zweite Bestattung handeln … oder um eine Opfergabe.
In den Tumulus auf dem Aeran drang niemals Licht; aber die Wintersonnenwende spielte bei allen megalithischen Kulturen der Erde eine besondere Rolle, die sich nicht auf eine bestimmte Gegend beschränkte.
Und bei den Aerani stand der Erdwind, wie sie entdeckt hatte, zu etwas anderem in Beziehung – zu ihrem Orakel, zu den brausenden Winden aus den Bergen, zu dem ‚Lied der Erde’, das die Schau der Zukunft in den Geist derer hineintrug, die geschult waren, das Orakel zu befragen.
Welche Tatsache – so fragte sie sich, als die mit halbem Ohr auf die Diskussion der Aerani hörte und dabei in Gedanken durch das Steinlabyrinth der Begräbnisstätte auf dem Planeten Erde wanderte –, welche Tatsache verbindet alles, was ich über die Aerani und den Erdwind weiß? Über ein Symbol, von dem sie anscheinend nicht gern sprechen, ein Symbol, das über der Feuergrube eingemeißelt ist und das sie verehren, aber gleichzeitig auch in gewissem Sinne fürchten …?
Worauf wies das alles hin? Auf eines: daß die Aerani, genau wie Elspeth, keine Ahnung hatten, was der Erdwind war, obwohl er tief in ihr Leben eingriff und sie recht gut wußten, daß er etwas darstellte, das von allerhöchster Bedeutung war oder einst gewesen war!
Nach dem, was Ashka sagte (sie selbst hatte davon noch nie gehört), lag die Erdwind-Höhle am hinteren Ende des rätselhaften Windkanals, der das Orakel war. Also konnte sie dort vielleicht einen Begriff vom Sinn jenes einzigartigen Symbols bekommen, der ihr bestimmt für immer verborgen bleiben würde, wenn sie lediglich auf die Beobachtung der Aerani und ihres Rituals angewiesen blieb.
Also zwei Symbolreihen, nicht nur eine? Das war jetzt mehr, mehr als eine bloße Möglichkeit. Die Symbole, die sie benutzten und verstanden, vielleicht bloß bedeutungslose Zeichen, ohne anderen Gebrauchswert als den der psychologischen Manifestation einer Ahnung von etwas Größerem (jedoch als Wiederholung!) … und ein zweiter Symboltyp, nur durch dieses eine Zeichen manifestiert, etwas so tief in jedem einzelnen Wurzelndes, daß es in einem Augenblick ganz selbstverständlich und im nächsten völlig vergessen sein konnte?
Die Flammen griffen mit knisternden Lichtfingern hoch in die rauchgeschwängerte Luft. Das Gespräch beim wärmenden Feuer wurde unnatürlich laut, aber alle sprachen durcheinander, so daß kaum etwas zu verstehen war. Es war wie ein Geräusch-Brennpunkt inmitten totaler Lautlosigkeit. Fluß-Sänger und Baum-Sänger summten ihr magisches Lied; die Töne und was sie an Bildern anklingen ließen, schwebten zart und zauberisch über dem Feuerschein; irgendwo ahmte ein Kind den Balzruf eines Schwarzflüglers nach. Ein Gefühl völliger Losgelöstheit überkam Elspeth, während sie dort am Erdwall saß, mit den Händen die Knie umfaßte, in die Flammen schaute, den Duft verbrannten Fleisches roch, dem sanften Lied lauschte, den durcheinanderrufenden Stimmen …
Aber nach und nach … erst war es nur eine ganz verschwommene Idee, doch mit jedem Herzschlag wurde sie deutlicher, mit jedem verfließenden Ton der
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