Erdwind
seines Geistes, daß Go r stein versagt hatte – versagt, weil er Ashka brauchte und daher kein ganzer Mann war?
Zweifel an Gorstein war Zweifel an sich selbst – ein ganz und gar unerträglicher Gedanke. Ashka und Gorstein gehö r ten z u sammen. So war es immer gewesen. Der Rationalist und der Schiffs-Meister; der Asiat und der ‚Westler’, der Kleine und der Hochgewachsene; der körperlich Schwache und der Starke; der im Schicksal Starke und der Schicksal s schwache – kompleme n täre Hälften eines einzigen Wesens, yin und yang; der, der in die Zeit hineingriff, und der, der sich an die Gegenwart klammerte. Lauter Seiten eines Ga n zen, und das war Vorwärtsdrängen, For t schritt, Erfolg …
Zweifel an Gorstein war Zweifel an sich selbst. An Go r stein zweifeln hieß, seine Schwäche, Ashkas eigene Schw ä che einzugestehen. Hatte er alle diese Jahre lang ein friedl i ches Leben g e führt, um jetzt, weniger als sieben Monate vor seinem Tode, se i ne ganze Existenz in Frage zu stellen? Nein. Das ging nicht. Go r stein hatte – Gorstein hatte …
Könnte er doch sagen: recht.
Wild, bitter, verzweifelt sehnte er sich danach, zu sagen, daß Gorstein recht hatte, zu wissen, daß Gorstein wirklich recht hatte. Doch wenn das so war … dann hatte sich das ching g e irrt. Wenn Gorstein recht hatte, über alle Zweifel erhaben recht hatte, dann hatte das ching unrecht, und das war unmöglich. Das ching kon n te sich nicht irren. Es konnte nicht angezweifelt werden. Also mußte Gorstein sich irren, mußte es falsch sein, daß er, wie er es jetzt tat, das Orakel ignorierte, daß er es a b lehnte, daß er Ashka ablehnte, wie er es jetzt offensichtlich tat … Gorstein irrte sich, und Ashkas Leben war eine Lüge, eine bittere Lüge, eine leere Hülle, ein Echo nur der Größe, der Ganzheit, eine nur flüchtig als Ganzheit verkleidete Hülse. Entscheidung macht Vertrauen zu Spott; Entschluß macht Tr ä nen zur Lüge.
Gorstein oder das ching, Schwäche oder Stärke, Wahrheit oder Lüge. Ich oder ich!
Und sekundenlang trieb Ashka auf dem Wege der Ve r wirrung, der Unsicherheit, des echten Zweifels an den be i den Werten, die ihm am höchsten standen.
Einen Augenblick, eine Sekunde nur schwieg die geistige Au s einandersetzung um die beiden Seiten des Problems, ließ er sich statt dessen treiben, schwamm er auf den Wogen des tao, ungeführt, ohne zu wissen, wohin … Verrat, einen Her z schlag lang.
Nur noch Minuten.
Ein Augenblick des Zweifelns.
Finsternis vor ihm.
Und dann die Lösung: Gorstein irrte. Er irrte, und er mu ß te g e stoppt werden. Es gab keinen Zweifel am ching – es wegzust o ßen war dumm, und Dummheit ist das Privileg der Unwissenden. Gorstein war selbstverständlich ein Unwi s sender. So unwissend, daß er die Natur von Zeit und Wan d lung nie begriffen hatte, ni e mals eine echte Beziehung zum Buch der Wandlungen gehabt und daher immer einen Rati o nalisten g e braucht hatte. Er war ein Schwächling der schlimmsten Sorte: Er gründete auf der Stärke der Grundsä t ze eines anderen.
Er mußte gestoppt werden; er mußte seine Entscheidung zurüc k nehmen!
Gorstein hätte sagen können: Gut, hier bin ich, ich nehme sie zurück. Doch das tat er nicht. Er konnte nicht wissen, was Ashka vorhatte; doch eben als Ashka zu einem endgü l tigen Entschluß gelangt war, glitt die Tür lautlos auf, und Gorstein stand da. Sein Gesicht war bleich und verzerrt – vor Anspa n nung, vielleicht auch vor Wut.
„Karl …“ Unsicher stand Ashka auf und sah den Schiffs-Meister an. „Karl, warum hast du mich vorhin nicht vorg e lassen?“
Gorstein starrte ihn kurz an, sah dann zu Boden und schloß die Tür wieder. Er trat in den Raum hinein, sah aus dem Fe n ster in die Dunkelheit hinaus (oder auf sein eigenes Spiege l bild?).
„Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten, Peter. En t schuld i ge, wenn ich vorhin unhöflich war.“
„Ich frage mich nur, warum du nicht mit mir reden wol l test.“
„Weil ich wußte, was du wolltest“, erwiderte Gorstein, und dabei war deutlich herauszuhören, daß er gereizt war. Er fuhr herum und sah den Rationalisten an, lächelte dann, lockerte den Gürtel seiner bauschigen roten Robe. „Es gab – und gibt – nichts, was ich zu deiner Beschwichtigung sagen könnte, Peter. Es ist zu spät zum Umkehren, und deine sehr echte Besorgnis wäre mir nur lästig gewesen.“
Lästig! Ashka konnte diese so gelassen ausgesprochene Beleidigung kaum fassen.
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