Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
wurde, ihre Fahrt den breiten, trägen Fluß hinauf zu den Docks fortzusetzen. Rendel, Tristan, Lyra und die Wachen standen an der Reling und betrachteten die Stadt, die an ihnen vorbeiglitt. Ein Gewirr von Häusern und gewundenen, mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen uferten weit über ihre alten Mauern und Türme aus. Das Haus des Königs, auf einer Anhöhe im Herzen der Stadt, wirkte wie eine trutzige Festung der Macht mit seinen kantigen Türmen und den massigen Steinquadern; doch die sorgsam gewählten Farben des Gesteins gaben ihm eine seltene Schönheit. Rendel dachte an das Haus des Königs in Anuin, das nach dem Ende der Kriege in Erinnerung an einen Traum aus muschelweißen Mauern errichtet und mit hohen, schlanken Türmen geschmückt worden war; den Mächten, die gegen den König von Ymris stritten, hätte es sich zerbrechlich gezeigt.
Tristan, die neben ihr stand und sich auf der Fahrt durch das ruhige Wasser langsam erholte, starrte offenen Mundes auf das Königshaus, und Rendel drängte hastig die Erinnerung an ein kleines, stilles, aus schwerer Eiche erbautes Haus zurück, hinter dem sich fruchtbare, regennasse Felder dehnten.
Während Bri Corvett mit düsterer Miene seine Befehle gab, sagte Lyra leise zu Rendel: »Das ist demütigend. Sie hatten kein Recht, uns einfach so ins Schlepptau zu nehmen.«
»Sie fragten Bri, ob wir nach Caerweddin wollten; er mußte bejahen. Seine Wendemanöver müssen verdächtig gewirkt haben. Sie dachten wahrscheinlich«, fügte Rendel hinzu, »er hätte das Schiff gestohlen. Und jetzt bereiten sie sich wohl darauf vor, meinen Vater in Caerweddin willkommen zu heißen. Sie werden eine Überraschung erleben.«
»Wo sind wir«, fragte Tristan, die bis dahin völlig stumm geblieben war. »Sind wir schon in der Nähe vom Erlenstern-
Berg?«
Lyra blickte sie ungläubig an.
»Hast du dir denn noch nie eine Karte vom Reich angesehen?«
»Nein. Das war nie notwendig.«
»Wir sind noch so weit vom Erlenstern-Berg, daß wir ebensogut in Caithnard sein könnten. Und dort werden wir in zwei Tagen auch wieder sein. «
»Nein«, fiel Rendel ihr heftig ins Wort. »Ich kehre nicht um.«
»Ich auch nicht«, sagte Tristan.
Über Tristans Kopf hinweg blickte Lyra Rendel an.
»Gut. Aber habt Ihr irgendwelche Vorschläge?«
»Ich überlege.«
Sie gingen neben einem der Kriegsschiffe vor Anker; das andere wartete, halb aus Höflichkeit wohl, und halb aus Vorsicht, bis Bri den Anker in das tiefe Wasser hinuntergelassen hatte, dann wendete es und glitt wieder zum Meer hinaus davon. Das Aufklatschen des Eisens im Wasser, das Klirren und Scheppern der Ankerkette klang wie das letzte Wort eines Streits durch die Luft. Als der Laufsteg heruntergeschoben wurde, sahen sie eine kleine Gruppe von Reitern, die sich ihnen näherte. Die Männer waren prächtig gekleidet und bewaffnet. Bri Corvett ging ihnen entgegen. Ein Mann in einer blauen Uniform trug ein blau und silbern gemustertes Banner. Rendel, die wußte, was es war, spürte, wie ihr plötzlich heiß das Blut ins Gesicht stieg.
»Einer von ihnen muß der König sein«, flüsterte sie, und Tristan warf ihr einen entsetzten Blick zu.
»Ich gehe nicht da hinunter. Seht Euch meinen Rock an.«
»Tristan, du bist die Landerbin von Hel, und wenn sie das erst hören, dann könnten wir ebensogut in Gras und Blättern gekleidet sein. Sie werden gar nicht darauf achten.«
»Sollen wir unsere Speere mitnehmen?« fragte Imer verwirrt. »Wenn die Morgol bei uns wäre, würden wir es tun.«
Lyra überlegte. Ihr Mund verzog sich ein wenig.
»Ich glaube, ich bin desertiert. Ein Speer in der Hand einer ehrlosen Leibwache ist kein Emblem, sondern eine Herausforderung. Doch da dies meine persönliche Sache ist, könnt ihr euch entscheiden, wie ihr wollt.«
Imer seufzte. »Du weißt, daß wir dich in der Kabine einsperren und Bri Corvett hätten befehlen können umzukehren. Wir besprachen das in der ersten Nacht, als du die Wache übernahmst. Das war ein Fehler, den du gemacht hast. Wir haben zu dem Zeitpunkt unsere Entscheidung getroffen.«
»Imer, bei mir ist das etwas anderes; mir wird die Morgol früher oder später verzeihen müssen, doch was wird euch zu Hause erwarten?«
»Wenn wir überhaupt nach Hause kommen und dich mitbringen«, versetzte Imer ruhig, »dann wird die Morgol wahrscheinlich bei weitem vernünftiger sein als du. Ich glaube, es ist ihr lieber, daß wir bei dir geblieben sind, anstatt uns von dir zu trennen. Der
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