Erdzauber 02 - Die Erbin von Wasser
wohin? Wie weit kann ein Baum vor seinen Wurzeln fliehen?«
»Ich will ja gar nicht -« Sie brach ab, ohne ihn anzusehen. »Geht heim«, sagte er leise.
»Har«, bemerkte Großmeister Tel trocken, »das ist ein Rat, den Ihr Euch selbst geben solltet. Diese Stadt ist nicht einmal für Euch der rechte Ort. Die Zauberer werden Ghisteslohm dort suchen; der Sternenträger wird Thod suchen; und wenn auch die Gestaltwandler sich dort versammeln, wird kein lebendes Wesen in dieser Stadt sicher sein.«
»Das weiß ich.« Das Lächeln in den eisblauen Augen vertiefte sich ein wenig. »Auf meinem Wege durch Kraal traf ich mit Händlern zusammen, die mich fragten, wohin ich glaubte, daß die Zauberer sich zurückgezogen hätten, als sie verschwanden. Das waren Männer, die ihre beiden Augen benützen, und ihr Blick reichte weit genug, sich zu fragen, ob sie ihr Leben aufs Spiel setzen wollten, indem sie ihrem Gewerbe in einer Stadt nachgingen, die dem Untergang geweiht ist. Händler besitzen wie Tiere einen Instinkt für die Gefahr.«
»Den besitzt auch Ihr«, erwiderte Großmeister Tel mit einiger Strenge, »doch Euch fehlt der Instinkt, sie zu meiden.«
»Könnt Ihr einen Vorschlag machen, wohin wir uns wenden sollen, um in einem Reiche Sicherheit zu finden, das dem Untergang geweiht ist? Und wann hat es in dem Niemandsland zwischen einem Rätsel und seiner Lösung je etwas anderes als Gefahr gegeben?«
Großmeister Tel schüttelte den Kopf. Er streckte die Waffen in diesem Streit, als er sah, daß er sinnlos geworden war.
Danach begaben sie sich zum Nachtmahl, das einige Schüler für sie bereitet hatten, denen die Rätselmeister einzige Familie waren, die Schule einziges Heim. Den Rest des Abends brachten sie in der Bibliothek zu und erörterten, während Rendel und der Wolfskönig schweigend zuhörten, die möglichen Ursprünge der Gestaltwandler, die geheime Bedeutung des Steines von der Ebene von Königsmund und des fremden Gesichts, das darin eingeschlossen war.
»Der Erhabene?« mutmaßte Großmeister Tel einmal, und Rendels Kehle zog sich in einer namenlosen Angst zusammen. »Ist es möglich, daß ihnen so sehr daran liegt, ihn zu finden?«
»Weshalb sollten sie am Erhabenen größeres Interesse haben als er an ihnen?«
»Vielleicht hält sich der Erhabene vor ihnen versteckt«, meinte ein anderer.
Har, der so still in den Schatten saß, daß Rendel seine Anwesenheit beinahe vergessen hatte, hob plötzlich den Kopf, doch er sagte nichts. Einer der anderen Meister nahm den Gedankenfaden auf.
»Wenn der Erhabene in Angst vor ihnen lebt, warum dann nicht auch Ghisteslohm? Das Gesetz des Erhabenen im Reich ist unangetastet geblieben. Mir scheint, es ist weniger so, daß er sich fürchtet, als vielmehr so, daß er ihrer nicht achtet. Und doch - er ist ein Erdherr; Morgons Sterne sind unlösbar an den früheren Untergang der Erdherren und ihre Kinder gebunden; es scheint unglaublich, daß er auf diese Bedrohung seines Reiches nicht reagiert hat.«
»Worin genau besteht diese Bedrohung? Wie weit reicht ihre Macht? Welches ist ihr Ursprung. Wer sind sie? Was wollen sie? Was will Ghisteslohm? Wo ist der Erhabene?«
Die Fragen verwoben sich zu Schleiern der Unklarheit, die wie der Qualm von Fackeln im Räume hingen; man zog schwere Folianten aus den Regalen, saß eine Weile brütend über ihnen, ließ sie dann aufgeschlagen liegen, so daß das von den Kerzen tropfende Wachs sich auf ihren Seiten sammelte. Rendel sah zu, wie die alten Bücher der Zauberer aufgesperrt wurden, hörte die Namen oder die Schlüsselworte, bei deren Klang die nahtlosen Einbände aus Eisen, Messing oder Gold aufsprangen; sie sah die schwarzen, eilig hingeworfenen Worte, die niemals verblichen, die leeren Seiten, die, wie ein Auge, das sich langsam öffnet, das auf ihnen Geschriebene erst unter der Berührung von Wasser oder Feuer preisgaben oder unter der Melodie eines belanglosen Verses. Die behäbigen Tische verschwanden schließlich unter Büchern, verstaubten Pergamentrollen und tropfenden Kerzen; ungelöste Rätsel schienen an den Dochten zu brennen, in den Schatten hinter Stuhllehnen und Bücherregalen zu kauern. Die Rätselmeister verstummten. Rendel, die gegen ihre Müdigkeit kämpfte, meinte über das Schweigen hinweg noch immer ihre Stimmen oder ihre Gedanken zu hören, die sich miteinander verflochten und sich wieder trennten, die Fragen stellten und Antworten verwarfen.
Ein wenig steifgliedrig stand Har schließlich auf, ging
Weitere Kostenlose Bücher