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Erebos

Erebos

Titel: Erebos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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fürchte ich. Bis später, ich freue mich auf dich! Emily Die letzten fünf Worte las Nick mindestens zwanzig Mal. Sie freute sich auf ihn.
    Er gab sich Mühe, nicht den ganzen restlichen Schultag mit einem seligen Lächeln herumzulaufen, aber er fühlte sich leicht, so leicht. Gleich würde es Nachmittag sein, dann gab es Tee bei Victor, möglicherweise ein paar neue Theorien und auf jeden Fall Emily. Manchmal war das Leben eine perfekte runde Sache.
    Kaum war die letzte Stunde vorbei, lief Nick zur U-Bahn. Er würde seinen Umweg heute ein wenig abkürzen, vielleicht zwei Stationen in die falsche Richtung fahren, höchstens drei, dann umsteigen und irgendwie über die City zurück nach King’s Cross kommen.
    Es ging alles wie geschmiert, niemand war hinter ihm, er achtete ganz genau darauf. Auch mit den Verbindungen hatte er Glück – kaum Wartezeiten beim Umsteigen.
    Gleich, dachte er, als er im Gedränge am Bahnsteig der Station Oxford Circus stand und bereits den nahenden Zug hörte. Gleich bin ich da. Nur noch drei Stationen von Emily entfernt und von Victors Teetassensamm –
    Der Stoß war heftig und kam von hinten. Im ersten Moment verstand Nick nicht, was passierte, er sah nur das runde U-Bahn-Zeichen an der gegenüberliegenden Wand auf sich zukommen, hörte den Aufschrei der umstehenden Menschen, fühlte, wie der Boden unter seinen Füßen verschwand. Dann sah er, wie in Zeitlupe, seinen Fuß, der an der Kante des Bahnsteigs vorbeitrat, sah die Schienen. Begriff, dass er auf die Gleise stürzen würde. Hörte den Zug, kämpfte um sein Gleichgewicht, fand nur Luft. Lichter strahlten aus dem Dunkel des Tunnels. Menschen schrien.
    ›Gleich‹, hallte der Gedanke von vorhin in Nicks Kopf nach, mit einer furchtbaren neuen Bedeutung.
    Dann riss etwas an ihm. Die Lok? Nein, eine Hand. Riss ihn nach hinten, schleuderte ihn zu Boden, während donnernd der Zug in die Station einfuhr.
    Menschen um ihn herum, viele, viele Stimmen.
    »Er wurde gestoßen!«
    »Nein, das hätte ich gesehen.«
    »Das kommt von der Drängelei.«
    »Nein, das war Absicht! Der Kerl ist weggerannt!«
    Nick rappelte sich mühsam hoch. Ein hochgewachsener Mann im blauen Arbeitsanzug half ihm dabei.
    »Das war knapp«, japste der Mann. »Gott im Himmel, ich hab dich schon unter dem Zug gesehen.«
    Nick brachte kein Wort heraus. Er schwankte, der Mann stützte ihn. Mit beiden Händen hielt Nick sich an seinem Ärmel fest, nahm weiße Farbspritzer auf dem blauen Stoff wahr.
    Der Zug fuhr wieder ab, die meisten Leute waren eingestiegen. Dann tauchte ein Polizist in gelber Sicherheitsweste auf und stellte Fragen. Nick fand mühsam seine Stimme wieder. Ja, er glaubte, dass er gerempelt worden war. Nein, er hatte nicht gesehen, von wem. Ja, der Mann in der Arbeiterkluft hatte ihn gerettet. Nein, er brauchte keine ärztliche Hilfe.
    Der Polizist nahm alles auf – auch die Namen und Adressen der Zeugen, von denen einer einen davonlaufenden Jugendlichen mit ins Gesicht gezogener Kapuze gesehen haben wollte – und versprach, sich zu melden, falls die Überwachungskameras am Bahnsteig brauchbare Bilder liefern würden.
    In den übernächsten Zug stieg Nick ein. Er fühlte seine Beine kaum und setzte vorsichtig einen Fuß vor den nächsten. Jetzt nur nicht nachdenken. Später nachdenken. Jetzt besser nur einatmen und ausatmen. Nick fixierte den Linienplan, der schräg über ihm an der Innenwand des Waggons hing. Er war dankbar für jede Abwechslung. Das vertraute Bild war beruhigend und erinnerte ihn an die Ratespiele, die er früher bei jeder Fahrt mit seinem Dad gemacht hatte. Central Line? Rot. Circle Line? Gelb. Piccadilly Line? Dunkelblau. Victoria Line? Hellblau. Hammersmith & City? Rosa.
    Er fühlte, wie sein Herzschlag sich beruhigte und sein Atem tiefer wurde. Er war nicht tot. Er lag nicht mal im Koma. Über alles andere würde er später nachdenken.
     
    »Jemand hat was versucht?« Victor hatte Nick ins Sofazimmer gezogen. Sein Zwirbelbart bebte und Nick musste beinahe lachen.
    »Ist ja nichts passiert.« Er sah in Emilys kalkweißes Gesicht. »Aber mir ist immer noch ein bisschen schwindelig. Kann ich etwas zu trinken haben? Etwas Kaltes?«
    Victor lief in die Küche, wo ihm offenbar etwas aus der Hand fiel und klirrend zerschellte. Man hörte ihn fluchen, rumoren und kehren.
    »Wir hätten gemeinsam herfahren sollen«, sagte Emily. Sie setzte sich dicht neben Nick und legte ihre Arme um ihn.
    »Nein. Dann wäre deine Tarnung dahin gewesen.

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