Erebos
mal«, sagte er und ließ sie stehen.
»Schon gut!«, rief sie ihm nach. »Dann mach ich es alleine! Ich schaff das! Ich nehm es mit euch allen auf!«
Obwohl er es nicht wollte, drehte Nick sich noch einmal um und ging zu Brynne zurück. »Leise! Willst du unbedingt Schwierigkeiten kriegen?«
Sie lachte und es war ein furchtbares Lachen. Als wäre sie verrückt oder würde es gerade werden. »Schwierigkeiten? Nicky, du hast keine Ahnung. So was von keine Ahnung. Es kann nicht schlimmer werden, auf keinen Fall.«
Den Rest des Tages hatte Nick das Gefühl, mit eingezogenem Kopf herumzulaufen, in ständiger Erwartung einer Katastrophe, die gleich hereinbrechen würde. Doch es passierte nichts. Es war sogar ruhiger als sonst. Erschöpfung lag über der Schule wie ein grauer Schleier.
In der Englischstunde kam Mr Watson mit einer Neuigkeit: »Jamies Zustand hat sich so weit verbessert, dass die Ärzte ihn in den nächsten Tagen aufwecken werden. Wie es ihm gehen wird, wenn er wieder bei Bewusstsein ist, wissen sie nicht. Mit Besuchen solltet ihr euch also noch Zeit lassen.«
Für kurze Zeit hob diese Nachricht die Stimmung der Klasse. Nick selbst blieb eigenartig ungerührt, das unausgesprochene Wort Behinderung saß ihm zu sehr wie ein Haken im Fleisch, als dass er sich hätte freuen können.
Sie wecken Jamie auf und er kann nur noch lallen. Erkennt mich nicht mehr. Spricht nicht mehr. Macht nie wieder einen Witz.
Nick rieb sich das Gesicht mit beiden Händen, bis es heiß war. Das würde nicht passieren. Punkt.
Am Nachmittag saß er zu Hause und hypnotisierte sein Handy. Victor hatte gesagt, er würde eine SMS schicken, Emily ebenfalls. Warum meldete sich niemand? Zu dumm, dass sie sich nicht für heute Nachmittag verabredet hatten. Bis Mittwoch dauerte es noch ewig.
Der Dienstag verlief ähnlich grau und freudlos wie der Montag; Nick wurde den Eindruck nicht los, dass die Zeit aufgehört hatte zu fließen, sie klebte und bröckelte nur in kleinen Stückchen. Das alles änderte sich schlagartig, als kurz vor zwölf eine SMS auf Nicks Handy einging:
Alarm! Brauchen deinen Rat. Komm her, so schnell es geht. Victor
Damit war der Nachmittagsunterricht für Nick gestorben. Schnell, das hieß möglichst gleich; er würde sich noch vor dem Essen davonmachen. Ob er Emily informieren sollte? Er suchte und fand sie in der Pausenhalle, wo sie auf ihrem Handy herumdrückte. Ausnahmsweise war sie allein. Nick riskierte einen blitzartigen Informationsaustausch.
»Auch eine SMS von Victor gekriegt?«
»Ja.«
»Weißt du, was passiert ist?«
»Nein.«
»Ich fahre hin. Jetzt gleich.«
»Okay.«
»Kommst du nach?«
»Weiß noch nicht. Vielleicht.«
Victor öffnete die Tür. In seinem Gesicht war keine Spur der üblichen Fröhlichkeit zu sehen, er bot Nick nicht einmal Tee an.
»Ich werde dir gleich etwas zeigen und ich hoffe, du flippst nicht aus. Kann sein, dass es gelogen ist, weißt du? Aber Speedy und ich sind ratlos.«
Zu dritt setzten sie sich ins Sofazimmer, wo Nick sofort alle wunderbaren Erinnerungen an das Wochenende übermannten. »Was ist denn passiert?«
»Speedy hat einen Auftrag bekommen. Er soll kommende Nacht Plakate an eurer Schule anbringen. Mindestens zehn und sie sollen so groß wie möglich sein.«
Bisher klang es nicht dramatisch. »Und?«, fragte Nick.
»Das Problem ist der Text. Es ist … Ach, ich weiß auch nicht. Im besten Fall ist es eine Verleumdung. Im schlimmsten Fall eine Sache für die Polizei.«
Speedy überreichte Nick ein gefaltetes Stück Papier. »Das da soll ich plakatieren. Immerhin muss ich nicht sprayen«, fügte er mit gequältem Lächeln an.
Nick entfaltete den Zettel. Las, ohne zu begreifen. Las noch einmal.
»Und, glaubst du, das stimmt?«, fragte Victor.
Nein. Oder doch. Wahrscheinlich. Es ergab Sinn. Voll hilfloser Wut starrte Nick auf das Papier.
Brynne Farnham hat Jamie Cox’ Fahrradbremsen manipuliert.
»Wenn das an eurer Schule klebt, ist diese Brynne Farnham geliefert, egal, ob sie es war oder nicht«, meinte Victor. »Speedy und ich diskutieren seit Stunden, was wir jetzt am besten machen. Wenn keine Plakate auftauchen, fliegt er auf jeden Fall aus dem Spiel, nicht?«
Nick war wie betäubt, auch seine Lippen fühlten sich taub an und waren kaum fähig, ein Ja zu formen. Brynne. Deshalb war sie so verstört gewesen. Deshalb war sie ausgestiegen. Er wünschte, er hätte es nicht erfahren. Er wünschte, Emily wäre hier und er müsste es nicht
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