Erfindergeist
Dingen zuging. Stefanie sprach mir diesen Instinkt zwar regelmäßig ab, aber ich war mir sicher, bisweilen mit einem sechsten Sinn gesegnet zu sein. Und in diesem Moment hatte er sich wieder aktiviert. Hinter dem Absperrband, das großzügig bis zur Mitte des Königsplatzes gespannt war, erblickte ich zwischen einer Mutter mit ihrem Kleinkind und einer Seniorin mit Gehhilfe einen Mann. Das war kein normaler Gaffer. Sein nervöses Verhalten erinnerte mich an Becker. Und sein seltsames Erscheinungsbild sorgte dafür, ihn unterbewusst in Verbindung mit den Kluwers zu bringen. Wer trug denn im Oktober ausgelatschte Sandalen? Die weißen Tennissocken endeten dort, wo viel zu kurze Jeans anfingen, die anscheinend nur durch den speckigen Schmutz einigermaßen in Form gehalten wurden. Das für die herrschenden Temperaturen viel zu dünne T-Shirt war mit Aufnähern übersät. Der Mann hatte extrem behaarte Arme und einen fülligen Rauschebart. Er trug die gleiche kreisrunde Brille wie das Mordopfer.
Ohne lang zu überlegen, ging ich direkt auf ihn zu und sprach ihn an. »Guten Tag, ich nehme an, dass Sie Mitglied im Verein ›Solarenergie forever‹ sind. Habe ich recht?«
Mein Gegenüber schien noch unruhiger zu werden. Mit dem Mund machte er die ganze Zeit mahlende Bewegungen, doch jetzt holte er ein Taschentuch aus seiner Jeans und spuckte eine braune Masse hinein.
»Wa… warum wollen Sie das wis… wissen?«, stammelte er. Ich konnte deutlich seine braunen Schneidezähne erkennen. Sein schlechter Atem ließ mich einen halben Schritt zurückweichen.
»Ich bin Polizist, da ist man eben ein wenig neugierig. Mein Name ist Palzki. Mit wem habe ich die Ehre?«
»Sagen Sie, ist dort wirklich jemand erschossen worden? Vielleicht sogar der Berti?«
»Berti? Darf ich Ihrer Frage entnehmen, dass Sie das Ehepaar Kluwer kennen?«
»Ja, ja, natürlich kenne ich die beiden. Die wohnen doch da drüben.« Er zeigte in die Richtung des Hauses.
»Darf ich Sie fragen, wie Sie heißen und woher Sie Herrn und Frau Kluwer kennen?«
Nachdem er sich, so, als würde er frieren, ein paar Sekunden lang die Hände gerieben hatte, antwortete er schließlich: »Gottfried Müller heiße ich. Ich war auf dem Weg zu Hannah und Berti, als ich hier die Absperrung bemerkte. Die Leute sagen, in diesem Haus wäre jemand erschossen worden.«
Ohne darauf einzugehen, stellte ich meine nächste Frage in einem etwas aggressiveren Ton: »Würden Sie mir freundlicherweise verraten, warum Sie die Kluwers besuchen wollten?«
Er wand sich, als wäre er ein Zwillingsbruder von Becker. »Ja, schon gut, Sie werden es erfahren. Hannah, Berti und ich sind in der Vorstandschaft von ›Solarenergie forever‹. Wahrscheinlich wissen Sie bereits, dass sich der Verein mit der Beratung von Unternehmen und Privatpersonen rund um das Thema Solarenergie befasst. Ich bin der Zweite Vorsitzende. Demnächst wird bei uns neu gewählt. Nach Meinung der meisten Mitglieder soll ich statt Berti Kluwer Erster Vorsitzender werden. Doch davon sind die Kluwers nicht begeistert. Mit allen Mitteln versuchen sie, die anderen dazu zu bewegen, Berti wiederzuwählen. Dabei geht es nicht immer fair zu, wie mir berichtet wurde. Genau darüber wollte ich heute mit den beiden sprechen. Ist Berti wirklich tot?«
Ich nickte. »Ja, der Posten des Ersten Vorsitzenden ist gerade frei geworden. Ich habe noch eine weitere Frage an Sie. Sie betrifft den Ausflug in den Holiday Park. Was ist dort passiert?«
Herr Müller war sichtlich betroffen. »Jemand hat Berti tatsächlich getötet? Das kann gar nicht möglich sein. Er hatte doch überhaupt keine Feinde.« Nachdem er einen Moment überlegt hatte, ergänzte er: »Es würde mich nicht wundern, wenn da die Nachbarn ihre Finger im Spiel hätten. Diese Leute sind einfach grauenvoll. Sie besitzen sogar einen künstlichen Weihnachtsbaum. So etwas muss man sich mal vorstellen.«
»Haben Sie vielen Dank für diesen Hinweis. Sie haben also gestern einen Ausflug gemacht?«
»Warum interessieren Sie sich dafür? Es war ein schöner Tag und wir alle haben ihn sehr genossen, selbst Hannah und Berti. Die beiden haben sich den ganzen Tag mit der Flora des Parks beschäftigt.«
»Abends sind Sie alle gemeinsam wieder nach Hause gefahren?«
»Ach so, ich verstehe. Berti kam nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Daher sind wir ohne die beiden losgefahren. Heute Morgen habe ich Hannah angerufen und dabei erfahren, dass der Berti nach langem Warten schließlich
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