Erfolg
stellenlos bleibe. Er werde einmal mit Tüverlin sprechen. Der Benno befasse sich mit Theaterbeleuchtungsproblemen; Tüverlin könne ihn sicher bei Pfaundler in der Revue unterbringen. Die Anni sagte, das wäre ja fein. Im übrigen hielt sie sich klüglich zurück und zeigte keine Neugier, was der Beni ihm mitzuteilen gehabt habe. Später am Abend fragte sie, warum eigentlich der Reindl der Fünfte Evangelist genannt werde. Kaspar Pröckl, nicht ohne Bitterkeit, erklärte: die vier Evangelien seien dunkelund gewännen ihre starke Wirkung gerade daraus, daß eben ein fünftes Evangelium fehle, das alles verdeutlichen könne. Das Wirksame an den vier Evangelien sei somit das fehlende fünfte. So auch würde alles an der bayrischen Politik klar, wenn man es nicht aus denen heraus erkläre, die offiziell diese Politik machten. Darum vermutlich, schloß er haßerfüllt, werde der Reindl der Fünfte Evangelist genannt. Die Anni hörte aufmerksam zu; es war nicht ganz klar, ob sie verstanden hatte.
Noch später am Abend fragte sie, ob der Kaspar sich das überlegt habe wegen Moskau. Kaspar Pröckl mit starken Worten erklärte, jetzt habe er’s aber satt; er wisse selbst, was er zu tun habe. Die Anni fand, auf diese Art erwirke sie am besten, daß er hierbleibe. Sie bestand nicht, gähnte, beschloß, am nächsten Tag darauf zurückzukommen.
9
Einhundertfünfzig Fleischpuppen und ein Mensch
Es kam ein farblos aussehender Mann mit einer Aktenmappe zu Jacques Tüverlin, drang sogleich in sein Zimmer, fragte still: »Sind Sie Herr Jacques Tüverlin?«, den schwierigen Namen mühsam und falsch aussprechend. Setzte sich an den Tisch, holte einen Füllfederhalter aus der Brusttasche, begann stumm, lange, umständlich zu schreiben. Herr Tüverlin schaute ihm zu. Dann sagte der Farblose: »Ich bin der Gerichtsvollzieher«, und präsentierte eine Legitimation. Herr Tüverlin nickte. Der Farblose sagte: »Hier ist eine Forderung an Sie im Betrage von 24 312 Mark. Wollen Sie sie zahlen?« – »Warum nicht?« sagte Herr Tüverlin. »Also bitte«, sagte streng der Farblose. Herr Tüverlin suchte in verschiedenen Fächern, es war früh am Morgen, er war im Pyjama und seine Sekretärin noch nicht da. Er fand drei schwarzgrüne Dollarscheine.»Ich fürchte, das reicht nicht«, meinte er. Nein, es reichte nicht. Der Dollar stand heute auf 823 Mark. »Ich glaube, ich habe das Geld nicht«, sagte Tüverlin bedauernd. »Dann muß ich zur Pfändung schreiten«, sagte der Mann, trug einiges in sein Protokoll ein, sah sich forschend im Zimmer um, fragte Tüverlin, ob dies oder jenes ihm gehöre, klebte auf mehrere Möbelstücke ein kleines, papierenes Wappen. Herr Tüverlin sah ihm zu, sein nacktes, zerknittertes Gesicht arbeitete heftig, er begann plötzlich schallend zu lachen. »Ich ersuche Sie, sich gebührlich zu benehmen«, sagte streng der Farblose und entfernte sich. Herr Tüverlin erzählte seiner Sekretärin von dem Besuch, besprach mit ihr seine finanzielle Lage. Sie war, da er den Prozeß gegen seinen Bruder verloren hatte, nicht gut. Er war nicht ängstlich; es lag ihm nicht viel an Sicherheit. Er besaß noch einige hübsche Sachen, auch sein kleines Auto. Vorläufig reichte das Geld, das er von Pfaundler erhielt. Herr Pfaundler, sowie er von Tüverlins Lage Wind bekam, nutzte seine Überlegenheit. Er strich mit dicken Fingern im Manuskript der Revue herum, und Aristophanes verflüchtigte sich. Kasperl, ein harmloser Hanswurst, mußte sich darauf beschränken, statt Klassenkampf gemütlichen Ulk zu machen.
Tüverlin hätte dem Pfaundler am liebsten die Arbeit hingeschmissen, sich dem Hörspiel »Weltgericht« zugewandt. Aber hatte er nicht die Form der Revue als ernsthafteste Kunstgattung der Zeit bezeichnet? Durfte er sich jetzt, wo man ihm Gelegenheit gab, diese seine Ansicht praktisch zu manifestieren, feig drücken? Mit der Vollendung des Textes war nichts getan. Es kam darauf an, die Worte in Erscheinung umzusetzen, in Szene, in Wirkung. Er war innerlich nicht abhängig von Erfolg oder Mißerfolg. Allein in Krieg, Politik, Wirtschaft, Theater entscheidet nichts als die Wirkung, nichts als der Erfolg. Sich in dieses Reich begeben, heißt die Spielregeln, heißt den Wertmesser Erfolg anerkennen. Eine szenische Aufführung, die nicht wirkt, ist ein Auto, das nicht funktioniert. Es war nicht angenehm, so viele Monate seinerbesten Zeit an eine Sache gesetzt zu haben, die nicht funktioniert. Der Ingenieur Pröckl unterstrich
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