Erfrorene Rosen
Fensterbank, exakt in die Mitte, sodass es aus allen Richtungen möglichst gut zu sehen ist. Er hat die beiden zu Hause lassen müssen. Anna und Eetu. Eetu ist erst ein knappes Jahr alt, zu klein für ein Leben aus dem Koffer. Es ist besser, dass Olli die unangenehmen Begleiterscheinungen seiner Berufswahl allein auf sich nimmt.
Plötzlich merkt Olli, dass er den Platz für das Bild mit geradezu lächerlicher Genauigkeit aussucht, auf den Millimeter, als ob sich die Entfernung zwischen ihm und seiner Familie dadurch verringern würde. Als er das Bild betrachtet, begreift er ganz konkret den Unterschied zwischen einem Zuhause und einer Bude. Das Zuhause ist der Ort, wo man ihn erwartet, wo man ihn liebt, es ist all das, was diese Bude nicht ist. Heimweh macht sich bemerkbar, irritierend stark. Erst jetzt spürt Olli es. Allein. Nach dem Arbeitstag. Dem ersten Arbeitstag, über den er unbedingt mit Anna sprechen müsste. Sich alles von der Seele reden, was passiert ist. Tossavainen. Die Bombendrohung. Das Spülen. Die Leiche. Es wäre so viel zu bereden. Natürlich gibt es Telefone, aber ein Handy kann einen nicht umarmen.
Es wundert Olli ein wenig, wie gut er mit seiner ersten Leiche fertiggeworden ist. Er denkt dabei weniger an den Verlauf der Ermittlungen als an seine erste Begegnung mit einem Toten. Wie ist es möglich, dass er sich der Leiche so kühl und beherrscht nähern konnte? Er war fähig, Beobachtungen anzustellen – zwar die falschen, aber immerhin. Er fühlt sich nicht erschüttert oder erschrocken. Seine psychische Verfassung ist nahezu normal, trotz allem, was er im Lauf des Tages erleben musste. Vielleicht lag es an der Uniform, die ihm den Schutz gegeben hat, den er brauchte. Vielleicht hat sie ihm geholfen, sich professionell zu verhalten. Aber was hat es mit dieser professionellen Einstellung eigentlich auf sich? Wird sie ihn verändern? Ist sein Umgang mit dem Tod aus beruflicher Sicht normal gewesen? Wie normal ist eine derartige Einstellung wirklich?
Wenn Olli auf sein bisheriges Leben zurückblickt, scheint ihm, als sei es immer irgendwie vom Tod überschattet worden. Über den Tod weiß er eine ganze Menge, über Tote so gut wie nichts. Auch deshalb war der Einsatz seiner Meinung nach ein Erfolg, obwohl er sich in seiner Unerfahrenheit vor Tossavainen blamiert hat. Der hat ihm gezeigt, wer die Hosen anhat. Wie die Dinge stehen und wie man sie erledigt. Deshalb hat Tossavainen jetzt mächtig Oberhand. Aber was ist das für ein Mensch, zu dem Olli nun aufschauen muss?
Es klingelt. Olli erstarrt. Die Türglocke schnarrt erneut. Olli fragt sich, wer da vor seiner Tür steht. Hoffentlich nicht Tossavainen. Er braucht Abstand von den Ereignissen des Tages.
Olli drückt die Klinke herunter, doch das Türschloss knackt unheilverkündend. Die Klinke bewegt sich haltlos auf und ab, das Schloss öffnet sich nicht. Olli ist in seiner eigenen Bude gefangen. Was nun?
Mit knacksenden Knien geht er in die Hocke und denkt dabei, wie lächerlich er wirken muss. Er hebt die Klappe am Briefschlitz. Durch den schmalen Spalt sieht er die Taillengegend eines Mannes, der einen ordentlichen, dezenten und allem Anschein nach teuren Anzug trägt. Unter dem Jackett blitzen eine Seidenkrawatte und eine goldene, mit kleinen Edelsteinen besetzte Nadel hervor. Als der Mann sich bückt, kommt zwischen seinen Hemdknöpfen etwas zum Vorschein: Wie aus dem Nichts erscheint ein goldenes Kreuz vor dem Briefschlitz. Olli zuckt zusammen. Das Kreuz sieht seltsam vertraut aus und wirkt zugleich wie ein furchterregendes Omen. Der Mann bückt sich noch tiefer und blickt herein, so nah, dass im Briefschlitz nur seine Augen zu sehen sind. Aber für Olli ist das genug. Erschrocken lässt er die Klappe zufallen.
Tossavainen wäre ihm doch lieber gewesen.Viel lieber. Olli lehnt sich an die Tür und sackt allmählich nach unten, sitzt auf dem Fußboden und schnaubt, wütend und ungläubig zugleich. So schnell holt ihn also in seinem verdammten Geburtsort die Vergangenheit ein? Er wägt eine Weile seine Situation ab, dann zieht er resigniert den Schlüssel aus der Tasche. Fliehen kann er nicht.
Der Schlüssel fällt durch den Briefschlitz nach draußen. Olli hört, wie er ins Schloss geschoben wird. Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit, dann ganz, und ein toter Mann tritt ein.
Unangenehm an diesem Todesfall ist, dass der Verstorbene lebt und wohlauf ist. Das Allerunangenehmste aber ist die Tatsache, dass es sich um Ollis Vater
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