Erfrorene Rosen
eines Etagenhauses. Die Luftwirbel, die das Haus und der nahe gelegene Wald erzeugen, beuteln es wie der Schöpfer den Bettler, bis es plötzlich gleichmäßigen Wind unter die Flügel bekommt. Es gibt sich dem Gleiten hin und nimmt Kurs auf den Birkenwald, dem der Herbst die Blätter geraubt hat. Es sieht aus, als jubiliere das kleine Flugzeug über seinen Zustand, als schwimme und plansche es übermütig im lange ersehnten Luftbad – endlich ist es in seinem Element.
Die Augen des kleinen Jungen reichen gerade über die Balkonbrüstung. Er beobachtet den Kampf des Gleiters mit den Luftströmen. Anfangs hüpft er vor Begeisterung, doch als sich sein Spielzeug immer weiter vom Balkon entfernt und auf den dichten Wald zusteuert, steht er still. Auf seiner Stirn erscheinen ein paar Falten, seine Besorgnis wächst, je kleiner das Flugzeug wird.
Der Herbst wird immer dunkler. Mal strömt der Regen, mal hagelt es. Dennoch fühlt Olli sich wohl.
Mit jeder neuen Schicht hat er sich ein wenig mehr an den Gedanken gewöhnt, dass er bei der Polizei arbeitet. Mit Dienstabzeichen und regelmäßigem Gehalt. Dazu da, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Das Gesetz zu bewachen, als Gesetzeshüter. Das Mienenspiel der Leute zu beobachten, wenn er im Streifenwagen ankommt. Er findet allmählich Gefallen daran. Er fühlt sich privilegiert. Stolz. Erhaben. Einfach großartig, um genau zu sein.
Aber immer wieder schleicht sich Unsicherheit ein. Vor allem, wenn ihn jemand etwas länger ansieht. So ein Blick ist wie die Bemerkung: Du bist gar kein richtiger Polizist. Du trägst die Uniform, du sitzt in einem Streifenwagen, aber du siehst nicht aus wie ein echter Polizist. Deshalb muss Olli von Zeit zu Zeit das Auto und dessen Ausrüstung, Tossavainen und das Abzeichen auf seiner Schulter betrachten und sich zum x-ten Mal vergewissern, dass auf seiner Brust tatsächlich Polizei steht. Dann fühlt er sich wieder für eine Weile sicher.
Jetzt machen sie gerade Pause auf dem vom Regen gepeitschten, schlammigen Parkplatz vor einem Drive-in-Grill. Die Fenster des Streifenwagens beschlagen zusehends, während Tossavainen eine fetttriefende Fleischpastete verschlingt und mit Milch nachspült, die er direkt aus der Halbliterpackung trinkt. Olli isst nichts. Er hat keinen Hunger, nur Tatendurst, und ist frustriert, weil er den jetzt nicht stillen kann.
Olli wischt die Windschutzscheibe ab. Unter dem Kondenswasser wird die Imbissstube sichtbar, die einsam auf dem leeren Grundstück steht. An der Hintertür lungern ein paar Männer herum. Das wundert Olli, denn die Verkaufstheke ist auf der anderen Seite.
Die Tür geht auf und eine etwa gleich große Männerschar kommt heraus. Sie wechseln ein paar Worte mit den anderen, Gelächter brandet auf, die Männer gehören zweifellos alle zusammen. Diejenigen, die draußen gestanden haben, gehen hinein, die anderen bleiben wartend stehen. Die Tür wird zugezogen.
»Überlegst du, was die da machen?«, murmelt Tossavainen und beißt ein großes Stück von seiner Pastete ab.
»Ja, schon«, sagt Olli.
»Die gucken sich einen Striptease an«, verkündet Tossavainen mit vollem Mund.
»Striptease?«, fragt Olli nach, überzeugt, sich verhört zu haben.
»Da ist so ein kleines Hinterzimmer, in dem auf Bestellung gestrippt wird«, erklärt Tossavainen.
Olli kann sich nicht vorstellen, wie irgendein menschliches Wesen, das auch nur ein Fitzelchen Selbstrespekt besitzt, sich in eine nach Fett stinkende Imbissbude zwängen kann, um sich einen Striptease anzusehen.
»Die Mädchen bereiten diese vorzüglichen Mahlzeiten zu und ziehen zwischendurch eine Show durch, dann wechselt die Schicht wieder. Russische Mädchen. Mitunter auf ganz gutem Niveau«, meint Tossavainen und gräbt die Zähne in seine Pastete. Zufrieden lächelnd betrachtet er die Tür zum Hinterzimmer, wird dann wie auf Befehl wieder ernst und widmet sich ausschließlich dem Essen.
Olli brütet vor sich hin. Er wehrt sich gegen den Gedanken, dass sein Praktikumsbetreuer womöglich auch einer der schmierigen Kerle ist, die sich an den Imbissstripperinnen aufgeilen. Aber warum wollte Tossavainen zum Essen unbedingt hierher, und warum hat er so vertraut und freundlich mit der Verkäuferin geredet? Mag sein, dass er das eine oder andere von der Polizeiarbeit versteht, nach zwanzig Jahren im Dienst wohl kein Wunder, aber das macht ihn noch längst nicht zu einem besseren Menschen. Durchaus möglich, dass Tossavainen ein komplettes
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