Erfrorene Rosen
einziges, altmodisches Türschloss.
»Wer ist gestorben?«, fragt der Mann.
»Niemand«, antwortet Tossavainen. »Deswegen sind wir nicht hier.«
»Aha. Setzen Sie sich, wo Platz ist«, fordert der Alte sie auf, nachdem sie das Wohnzimmer erreicht haben, und deutet auf einige freie Flächen in dem überfüllten Raum, bleibt selbst jedoch stehen.
Alle möglichen Dinge türmen sich auf dem Fußboden, im Schlafzimmer ist nur noch ein schmaler Pfad frei, eine Art Laufgraben. Die Sachen sind nicht nur vorübergehend in der Wohnung, sondern offensichtlich ein fester Teil der Einrichtung. Sie sind das Leben des Mannes. Das, was er erreicht hat und was ihm geblieben ist.
»Wohnen Sie allein hier?«, fragt Tossavainen mit einem Blick auf das alte Hochzeitsfoto in einem überfüllten Bücherregal.
»Ja, meine Frau ist schon vor zehn Jahren gestorben. An Krebs.«
»Aha.«
»Wenn sie erst jetzt erkrankt wäre, hätte man sie retten können. Eine kleine Operation, nur zwei Tage Krankenhaus. So rasant hat sich die Medizin entwickelt. Ist schon komisch. Damals konnte man nichts für sie tun.«
Der Mann sieht Olli und Tossavainen breit lächelnd an. Sie wissen, dass er nicht belustigt ist, es ist auch kein gutmütiges, herzliches Lächeln unter Freunden, sondern eine Grimasse, die dem Leben und seiner Ungerechtigkeit gilt. Denn es ist schon eine Zumutung, einen geliebten Menschen zu verlieren, weil er zehn Jahre zu früh erkrankt.
Tossavainen räuspert sich verlegen, holt das Foto hervor und reicht es dem Alten.
»Kennen Sie diesen Mann? Wir müssen ihn finden, denn er wird möglicherweise töten«, sagt er zögernd. Er weiß nicht recht, wie er sich ausdrücken soll.
»Mich?«, fragt der Alte und dreht das Foto in den rheumatisch verkrümmten Händen.
Als er die Hände sieht, wundert es Olli nicht mehr, dass der Mann so lange gebraucht hat, um die Tür zu öffnen.
»Wir wissen es nicht mit Sicherheit«, erwidert Tossavainen.
»Wieso nicht?«
»Es gibt viele Möglichkeiten.«
»Und ich bin eine davon?«
»Ja.«
Der Alte sieht Tossavainen entgeistert an. Olli versucht, sich vorzustellen, welchen Schock ihm diese Nachricht versetzt haben muss. Doch das Gesicht des Mannes verzieht sich zu einem breiten Grinsen. Gleich darauf bricht er in Lachen aus. Sieht Olli an und lacht weiter. Das Gelächter wirkt beinahe ansteckend.
Nach einer Weile beruhigt sich der Mann, wendet sich ab und fragt: »Warum denn bloß?«
»Er hat seine Gründe«, antwortet Tossavainen ausweichend.
»Na, das trifft sich ja bestens. Ich hätte nämlich meine Gründe zu sterben«, sagt der Mann und ist nun todernst. »Sehen Sie sich doch um. Ich habe keinen Grund weiterzuleben.«
Olli fühlt sich klein, unnütz und unzulänglich, weil ihm nichts einfällt, was er dagegenhalten könnte. Doch dann denkt er, dass es ihm vielleicht gar nicht zusteht, dem Alten zu widersprechen. Wenn jemand mit einer derartigen Lebenserfahrung den vor ihm liegenden Rest seines Lebens als inhaltslos bezeichnet, kann es durchaus sein, dass er recht hat.
»Ja, den habe ich gesehen«, sagt der Mann und hält Tossavainen das Foto hin.
Tossavainen ist so verdattert, dass er nicht daran denkt, es entgegenzunehmen. Der Alte dagegen verhält sich, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert.
»Wo haben Sie diesen Mann gesehen?«, bringt Tossavainen schließlich heraus.
»Hier.«
»Hier? Er war in Ihrer Wohnung?«
»Ja«, nickt der Alte. »Wegen dem Bild da.«
Das Gemälde zeigt eine Schar Soldaten, die in der Sonne sitzen. Sie sehen entspannt und fröhlich aus, als hätten sie nie Kriegswirren erlebt.
»Ich hätte es nicht allein aufhängen können«, erklärt der Alte. »Er hat mir geholfen. Später war er dann noch mal da, zum Kaffee.«
»Kennen Sie sich schon lange?«, fragt Tossavainen.
»Nein, erst seit einigen Wochen. Wir haben uns beim Einkaufen kennengelernt. Ich konnte das Geld nicht aus dem Portemonnaie fischen, wegen meinen Fingern, und die Frau an der Kasse war zu hochnäsig, um mir zu helfen.«
»Und da hat Ihnen der Mann geholfen?«, fragt Olli.
»Ja. Er hat hinter mir in der Schlange gestanden und gefragt, ob ich Hilfe brauche. Und er hat mir nichts geklaut. Ein netter Mann, schwer zu glauben, dass er …«
»Hat er seinen Namen genannt?«, fällt ihm Tossavainen ins Wort.
»Veikko Kivelä.«
Tossavainen sieht Olli an. Der nickt und geht in den Flur, um den Namen zu überprüfen.
»Er wirkte irgendwie …«
»Einsam?«, ergänzt Tossavainen in
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