Erfrorene Rosen
der Vermutung, dass der alte Mann in dem Fremden einen eigenen Wesenszug entdeckt hat.
»Ja«, bestätigt der Alte überrascht. »Er schien froh zu sein, dass er mit jemandem reden konnte, und ich selbst habe ja auch nicht viel Gesellschaft.«
Traurig betrachtet er seine Hände. Seine Traurigkeit kommt nicht daher, dass sie, wie sein ganzer Körper, alt und schwach geworden sind, eher trauert er um die aufkeimende Freundschaft, die ihm nun plötzlich aus den Fingern zu gleiten scheint.
Olli kehrt zurück und schüttelt enttäuscht den Kopf.
»Wie heißt er wirklich?«, fragt der Alte.
»Das wissen wir nicht.«
»Natürlich nicht«, seufzt der Alte und schaut zum Fenster hinaus.
»Ich möchte Sie bitten, mit uns zu kommen«, sagt Tossavainen höflich. »Sie sind nicht der einzige Betroffene und wir müssen alle potenziellen Opfer in Sicherheit bringen, damit nichts passiert.«
Der Mann blickt weiter nach draußen, als hätte er nichts gehört. Tossavainen sieht Olli fragend an: Hat er sich verständlich ausgedrückt?
»Man kann mich doch wohl nicht zwingen … mein Zuhause zu verlassen?«
»Im Prinzip nicht«, druckst Tossavainen herum. »Und im Prinzip doch. Wir könnten Sie unter Berufung auf das Polizeigesetz evakuieren.«
»Na, falls er zu mir kommt … Ich werde Sie nicht zu Hilfe rufen.«
Tossavainen versteht den Wink. Zeigt Feingefühl in einer Situation, in der die Privatsphäre und das Beschlussrecht eines Bürgers zu respektieren sind. Der alte Mann hat in seinem Leben genug mitgemacht, er verdient die Möglichkeit, über sein Schicksal selbst zu bestimmen. Olli will etwas sagen, doch Tossavainen bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Jetzt wäre jedes Wort zu viel.
Tossavainen stoppt an der Ampel, wirft einen Blick auf das Armaturenbrett seines Peugeot, nimmt eine Hand vom Lenkrad und schlägt kräftig auf den oberen linken Rand des Tachometers. Er wartet, zum nächsten Schlag bereit, doch da geht die Beleuchtung tatsächlich an.
Olli blättert die Fotos durch. Als er endlich das Bild des Alten findet, schreibt er eine kurze Notiz über das soeben geführte Gespräch auf die Rückseite. Auf dem Foto der Mutter steht kurz und bündig: Gefunden – in Sicherheit. Von diesen beiden dürfte der Alte wohl das wahrscheinlichere Opfer sein. Die Mutter hat den Verdächtigen nie gesehen, während der Alte ihm mehrfach begegnet ist. Er scheint den Verdächtigen also aus irgendeinem Grund stärker zu interessieren. Offenbar hat der alte Mann etwas ausgestrahlt, das Anlass zu weiteren Erkundigungen gegeben hat. Allerdings haben sich dabei vielleicht doch keine Hinweise darauf gefunden, dass er das richtige Opfer ist, und der Unbekannte hat seine Suche anderweitig fortgesetzt.
»Wie viele von den Leuten sind bisher identifiziert?«, fragt Tossavainen.
»Fünf. Drei haben sich selbst gemeldet, zwei haben wir aufgrund von Hinweisen gefunden.«
»Und wie viele sind noch unbekannt?«
»Drei.«
»Es ist hoffnungslos«, schnaubt Tossavainen verzweifelt. »Unser Mann weiß, dass wir die Leute bald finden, nachdem ihre Fotos veröffentlicht wurden. Und er weiß auch, dass wir sie in Sicherheit bringen und er nicht mehr an sie herankommt. Er hat die Tat längst begangen, das sag ich dir.«
»Kann man nicht wissen«, wendet Olli ein. »Die drei Letzten finden wir auch noch, wart’s nur ab.«
Mit quietschenden Bremsen hält der Wagen vor einem kommunalen Reihenhauskomplex. Olli und Tossavainen betrachten die Häuser, die sich in lockerer Dreiecksformation in die Landschaft verkeilen. Sie kennen die Siedlung. Hier kommt die Polizei des Öfteren zum Einsatz.
»Welches Haus ist es?«, fragt Tossavainen.
»Nummer acht.«
In der Siedlung ist es friedlich. Nichts deutet auf eine drohende Gefahr hin und die schlimmsten Raufbolde liegen allem Anschein nach im Bett oder auf dem Sofa und sammeln Kräfte. Olli nimmt das Foto eines Mannes zur Hand, dessen schmales Gesicht von einer übergroßen Lacoste-Brille beherrscht wird. Mit seinem auffällig dunklen Teint erinnert der Mann an einen spanischen Obsthändler, dessen Versuch, wie ein reicher Mann zu wirken, an grober Stillosigkeit gescheitert ist.
Olli geht an den aufgereihten Briefkästen entlang, bis er zu dem gesuchten kommt. Der Deckel schließt nicht ganz fest. Olli späht durch den Spalt und sieht, dass der Kasten bis an den Rand gefüllt ist. Zeitungen, Wurfsendungen, Rechnungen. Es hat den Anschein, dass sie an der richtigen Adresse
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