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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Morgendämmerung kehrt sie zurück und legt sich wieder in meiner Haut schlafen. Eines Tages wird sie meine Mutter und meine Geschwister finden.«
    Laurinda nahm das Tablett und verließ das Zimmer. Hanna legte sich aufs Bett und dachte über das nach, was sie gehört hatte. Welches Tier hatte in der Nacht gerufen, als sie selbst geboren wurde?
    Ein leichtes Klopfen war an der Tür zu hören. Als sie aufmachte, stand Senhor Vaz vor ihr. Er war festlich in einen Frack gekleidet und hatte einen Zylinder unter dem Arm. Neben ihm stand Carlos auf seinen krummen Beinen, auch er im Frack.
    Senhor Vaz verbeugte sich. »Ich bin gekommen, um einen Heiratsantrag zu machen«, sagte er.
    Erst verstand sie nicht, was er meinte. Aber dann wurde ihr klar, dass er sie tatsächlich heiraten wollte.
    »Ich verlange natürlich keine sofortige Antwort«, fuhr er fort. »Aber jetzt habe ich meinen Wunsch vorgetragen.«
    Er verbeugte sich erneut, drehte sich um und ging zur Treppe zurück. Carlos begann plötzlich zu hüpfen und zu rufen und kletterte in die Deckenlampe hinauf, nachdem er den Zylinder von Senhor Vaz an sich gerissen hatte.
    Hanna schloss die Tür und hörte, wie das Chaos, das ausgebrochen war, als Carlos einen seiner aufrührerischen Anfälle bekam, langsam verebbte. Nach diesen Ausbrüchen wurde er zur Strafe immer für ein paar Tage in einen Käfig gesperrt. Da er den Käfig hasste, war er äußerst gefügig, wenn er wieder freigelassen wurde.
    Hanna dachte über das nach, was Senhor Vaz gesagt hatte.
    Es war, als wäre sie kurz davor, in einer Falle steckenzubleiben. Aber noch konnte sie aufbrechen und verschwinden.
    Am nächsten Morgen ging sie schon in der Dämmerung zum Hafen, um zu sehen, welche Schiffe am Kai angelegt hatten oder draußen auf Reede warteten. Vor dem Haus schlief der Wächter, den zerfetzten Zylinder auf dem Kopf.
    Die Zeit war knapp geworden. Sie musste sich beeilen.

38
     
    Einige Tage nach Senhor Vaz’ Heiratsantrag verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, ein mächtiger Eisberg sei vor der Küste in nördlicher Richtung gesichtet worden. Er sei jetzt mit den Meeresströmungen auf dem Weg nach Süden. Hanna erfuhr es von Felicia, die eilig ihre aufreizende Arbeitsausstattung mit anständiger Straßenkleidung vertauscht hatte. Ein Kunde, Lokführer aus dem fernen Salisbury, der das Bordell zweimal im Jahr besuchte, war über das Gerücht vom Eisberg genauso aufgeregt wie alle im Hotel-Bordell. Senhor Vaz hatte sich bereits auf den Weg zum Hafen gemacht, als Hanna die Treppe hinunterkam. Aber Judas, der mittlerweile den zerfetzten Zylinder trug, erwartete sie.
    Auf der Straße wimmelte es von Menschen, die auf dem Weg zum Meer waren oder auf die Hügel kletterten. Hier, wo die Stadt ihren höchsten Punkt hatte, hofften sie, den Eisberg vor allen anderen zu entdecken.
    Aber es tauchte kein Eisberg am Horizont auf. Der Tag war heiß und drückend. Die Zuschauer standen unter ihren Sonnenschirmen und tupften sich den Schweiß von den erwartungsvollen Gesichtern. Vielleicht war der Eisberg ja längst in der Hitze geschmolzen. Die Älteren sagten, das Gerücht sei bestimmt nur frei erfunden, wie all die Male zuvor. Niemand hatte je einen Eisberg gesehen. Aber ungefähr jedes zehnte Jahr verbreitete sich das Gerücht, und die ganze Stadt machte sich auf die Beine.
    Unterwegs zum Hafen sah Hanna, dass sich Schwarze und Weiße nebeneinander auf dem Gehsteig bewegten. Niemand schien daran Anstoß zu nehmen. Aber jetzt, als der Eisberg keine gemeinsame Hoffnung mehr darstellte, war es wieder wie zuvor. Die Weißen beanspruchten den Gehsteig für sich und stießen jeden schwarzen Mann und jede schwarze Frau brutal auf die Straße.
    Es war, als hätte Hanna für einen kurzen Augenblick eine andere Gesellschaft gesehen, wie zur Probe, die dann rasch abgebrochen wurde.
    Am Abend, als der rätselhafte Eisberg sich in eine enttäuschende Erinnerung verwandelt hatte, zog Regen über der Stadt auf. Es begann mit einem sachten Tropfen, das langsam anschwoll. Gegen drei Uhr morgens erwachte Hanna von einem Dröhnen. Der kräftige Regen prasselte auf die Blechdächer. Sie erhob sich schlaftrunken und ging zum Fenster. Der Regen stand wie eine grauweiße Wand vor all dem Dunkel. Aber es war noch genauso heiß wie am Tag. Als sie die Hand ausstreckte und das Wasser auffing, spürte sie, dass der Regen sehr warm war, als hätte er auf dem Weg zur Erde zu kochen begonnen.
    Es dauerte lange, bis es ihr gelang, wieder

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