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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Klavier zurück, den schläfrigen Carlos in den Armen.
    Plötzlich wurde Hanna klar, was das Schweigen bedeutete. Niemand wollte die Nähe, die sie anbot. Es gab viel aufgestauten Unwillen, den sie nicht verstand. Begriffen sie nicht, dass sie ihnen als Frau tatsächlich näherstand? Dass alles, was sie gesagt hatte, wahr war, mitten in dieser Welt von Heuchelei und Lügen?
    Sie hatte ihr Notizbuch mitgenommen und schrieb, zögernd, als könnte sie sich nicht auf ihre Fähigkeit verlassen, ihre Gedanken zu deuten: »Wer jemanden der Freiheit beraubt, kann vom Beraubten keine Nähe erwarten.«
    Sie las, was sie geschrieben hatte, und legte das Notizbuch zurück in den geflochtenen Korb neben einen Schal und eine Blechflasche. Sie trug das Trinkgefäß immer bei sich, denn es enthielt Wasser, das lange gekocht hatte, ehe es abkühlte.
    Die Frauen kehrten in ihre Zimmer zurück. Keine saß auf den Sofas, wo sie bald wieder ihre Kunden empfangen würden. Hanna verstand, dass sie nicht Gefahr laufen wollten, von ihr angesprochen zu werden und eine Nähe zu zeigen, die sie nicht wünschten.
    Nähe, dachte sie. Für sie ist Nähe nichts anderes als eine Bedrohung, der sie sich nicht aussetzen wollen.
    Sie blieb mit dem Korb in der Hand stehen, unsicher, ob die Reaktion, die sie bekommen hatte, eher Wut oder eher Enttäuschung auslöste. Oder war sie eigentlich dankbar und erleichtert, nicht durchführen zu müssen, was sie sich halbherzig vorgenommen hatte?
    Anwalt Andrade stand plötzlich an ihrer Seite. Obwohl es noch früh am Morgen war, lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Ein Tropfen an seiner Nasenspitze machte sie ungeduldig und erfüllte sie mit Abscheu. Sie musste sich beherrschen, um ihm nicht mit dem Taschentuch ins Gesicht zu fahren, das im Bund ihrer Bluse steckte.
    »Haben Sie an diesem Morgen noch einen Wunsch an mich?«
    »Nein, keinen anderen, als Ihre Meinung zu erfahren.«
    Andrade zuckte zusammen. Neue Schweißperlen sammelten sich an seiner Nase. Hanna wusste, dass er es nicht schätzte, wenn sie ihn nicht mit seiner Berufsbezeichnung ansprach. Er fasste das wohl als mangelnden Respekt auf. Aber wie sie wusste, ließ er sich für seine Dienste gut bezahlen und wollte bestimmt nicht, dass sie ihn gegen einen der jungen und gierigen Anwälte aus Lissabon eintauschte, die jetzt in großer Zahl ihr Glück in Portugals afrikanischen Besitztümern suchten.
    »Meine Meinung worüber?«
    »Das Gespräch. Die Versammlung. Das Schweigen.«
    Ihr Abscheu nahm zu. Die Schweißperlen in seinem aufgeschwemmten Gesicht bereiteten ihr Übelkeit.
    »Es war eine gute Darstellung des Zustands der Dinge«, sagte Andrade nachdenklich.
    »Sie befinden sich nicht vor einem Gericht. Sagen Sie, wie ihre Reaktion auf Sie gewirkt hat.«
    »Die der Huren? Was kann man anderes von ihnen verlangen als Schweigen? Sie sollen etwas anderes öffnen, nicht ihre Münder.«
    Hanna dachte, Andrades Frechheit würde sie erröten lassen. Sie wurde wieder zu dem Mädchen am Fluss, das es kaum wagte, einem fremden Mann in die Augen zu blicken. Zugleich sah sie ein, dass er recht hatte. Warum glaubte sie, sie könne etwas anderes bekommen als Schweigen? Sie hatte mehrmals gesehen, wie Senhor Vaz die Frauen zu einem Gespräch um sich versammelte, und nie war eine von ihnen mit einer Frage oder dem Wunsch gekommen, etwas zu verdeutlichen. Schon gar nicht hatte es je einen Widerspruch gegeben.
    Andrade verschwand hinaus in die sengende Sonne und setzte sich in sein Auto, das von einem uniformierten Schwarzen gefahren wurde. Hanna hatte mit dem Chauffeur vereinbart, dass er in einer Stunde wiederkommen und sie abholen sollte.
    Sie ging die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu dem Zimmer, in dem sie die ersten Nächte nach der Flucht von Svartmans Schiff geschlafen hatte. Sie legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Es gab nichts, wohin sie zurückkehren konnte, nicht einmal die Erinnerung an die ersten einsamen Nächte, die Blutung und Laurinda, die ihr mit lautlosen Schritten entgegengekommen war.
    Sie verließ das Zimmer, ohne zu verstehen, warum sie ins Obergeschoss gegangen war. Sie setzte sich auf eins der roten Plüschsofas und wartete auf das Auto. Carlos war aufgewacht und in den Palisanderbaum geklettert. Dort saß er und betrachtete sie, als erwartete er, dass auch sie hinaufklettern und sich an den Ästen festklammern würde.
    Sie sah all die geschlossenen Türen. Ihr wurde klar, dass sie nichts davon wusste, was sich in den Köpfen

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