Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
vielleicht sogar als Entschuldigung für einen allzu rasenden erotischen Ausbruch.
Das Leder, wahrscheinlich Kalbsleder, war dunkel eingefärbt. Die weißen Seiten waren aus dickem Papier, aber trotzdem weich und biegsam. Als Hanna ihren Namen hineinschrieb, als Nachnamen wählte sie »Lundmark«, sog das Papier die dunkelblaue Tinte auf. Es war kein Löschpapier nötig.
Sie schrieb das Datum des Tages. 26. März 1905. Vorsichtig, als könnte jedes Wort eine Gefahr darstellen, schrieb sie einen Satz: »Heute Nacht von etwas geträumt, was nicht mehr ist.«
»Heute Nacht von etwas geträumt, was nicht mehr ist.« Das war alles. Aber sie hatte jetzt eine neue Gewohnheit angenommen, an der sie festhalten wollte. Sie würde nicht nur Zahlen in ihre Kassenbücher schreiben, sie würde auch ein Tagebuch führen, zu dem nur sie selbst Zugang hatte.
Jeden Tag schrieb sie nun ein paar Sätze, nachdem Eber wieder gegangen war und sie die Einkünfte der Nacht im Tresor eingeschlossen hatte. Mit jedem Tag wagte sie sich weiter weg von den gewohnten Pfaden, erzählte nicht nur von dem, was sie geträumt hatte, was Carlos getan hatte oder wie das Wetter war. Sie begann über die Frauen zu schreiben, die für sie arbeiteten, im Bordell und in dem Haus, in dem sie saß und schrieb.
Nach einem Monat machte sie eine Notiz über Senhor Vaz und seine vergeblichen Versuche, sie und sich selbst zu befriedigen. Ihr Ton wurde schärfer, ihr Urteil über Menschen immer strenger. Für ihr Tagebuch gab es keinen heimlichen Leser.
Was sie schrieb, beeinflusste jedoch nicht ihr Verhalten den Menschen gegenüber, die von ihr abhängig waren. Da trat sie genauso rücksichtsvoll und freundlich auf wie zuvor. Nur ins Tagebuch schrieb sie, was sie wirklich dachte. Dort stand die Wahrheit, und die hielt sie geheim.
Nur ein einziger Mensch außer ihr kannte das Tagebuch. Das war die junge Julietta, die im Haus aushalf, wenn es nötig war. Sie hatte eines Tages an der geöffneten Tür gestanden und Hanna am Schreibtisch über das Tagebuch gebeugt gesehen. Hanna hatte das Mädchen gerufen und ihm gezeigt, dass sie schrieb, wohl wissend, dass Julietta Analphabetin war und weder von Buchstaben noch von Sprachen etwas verstand. Julietta hatte gefragt, worüber Hanna schrieb.
»Worte«, erwiderte Hanna. »Worte über das Land, aus dem ich gekommen bin.«
Mehr hatte sie nicht gesagt, obwohl Julietta eifrig weitere Fragen stellte. Später hatte Hanna darüber nachgedacht, warum sie sie belogen hatte. Im Tagebuch stand nichts über ihr Leben im Fjäll und an dem kalten Fluss. Hingegen hatte sie mehrmals herablassende Anmerkungen auch über Julietta gemacht.
Warum sagte sie nicht, wie es war? Wurde sie allmählich wie die Menschen, die sie in der Stadt umgaben und die scheinbar nie die Wahrheit sagten? Anfangs hatte sie Senhor Vaz geglaubt, wenn er behauptete, alle Schwarzen würden lügen. Dann hatte sie erkannt, dass weiße Menschen oder die Menschen indischer oder arabischer Abstammung auch logen, wenn auch auf andere Art. Sie befand sich in einem Land, das auf einem Fundament von Lüge und Heuchelei zu ruhen schien.
Sie machte Julietta ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen. Dann schrieb sie auf, was sie gerade gedacht hatte: »Schwarze Menschen lügen, um nicht unnötig gequält zu werden. Weiße Menschen lügen, um die Übergriffe zu rechtfertigen, die sie begehen. Araber und Inder lügen, weil es in dieser Stadt, in der wir leben, keinen Platz mehr für eine Wahrheit gibt.«
Sie dachte auch, ohne es niederzuschreiben, dass sie es bereute, Julietta ihr Notizbuch gezeigt zu haben. Hatte sie eine Unvorsichtigkeit begangen, die ihr in der Zukunft schaden könnte?
Sie schloss das Notizbuch im Tresor ein und stellte sich ans Fenster, das zum Meer ging. Im Fernglas sah sie zur Insel Inhaca hinüber, die sie in der »Zeit der Untätigkeit« einmal mit dem Segelboot besucht hatte, zusammen mit Senhor Vaz und Anwalt Andrade.
Sie bewegte das Fernglas zur Stadt hin, zu den Hafenvierteln. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie den Wächter vor der Tür des Bordells sehen, vielleicht auch eine der Frauen, die träge im Schatten auf Kunden warteten.
Der Gedanke kehrte zurück: Ich sehe sie. Aber sehen sie mich auch? Und wenn sie mich sehen: Wer bin ich für sie?
Sie stellte das Stativ mit dem Fernglas auf die Marmorplatte vor dem Fenster zurück und schloss die Augen. Trotz der Wärme konnte sie sich in die Zeit zurückversetzen, als sie im
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