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Erinnerung an meine traurigen Huren

Erinnerung an meine traurigen Huren

Titel: Erinnerung an meine traurigen Huren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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jede Angelegenheit zu ihrer Zeit, jedes Wort im richtigen Stil zu haben, nicht der verdiente Preis eines geordneten Geistes, sondern das ganze Gegenteil war, geradezu ein System der Täuschung, das ich erdacht hatte, um meine unordentliche Natur zu verbergen. Ich entdeckte, dass ich nicht aus Tugend diszipliniert bin, sondern als Reaktion auf meine Nachlässigkeit; dass ich mich großzügig gebe, um meine Kleinlichkeit zu verdecken, dass meine Vorsicht aus Vorurteilen erwächst, dass ich versöhnlich bin, um nicht meiner unterdrückten Wut anheim zu fallen, dass ich nur pünktlich bin, damit niemand erfährt, wie gleichgültig mir fremde Zeit ist. Zu guter Letzt entdeckte ich, dass die Liebe nicht ein Seelenzustand, sondern ein Zeichen des Tierkreises ist.
    Ich wurde ein anderer. Ich versuchte, die Klassiker neu zu lesen, die mich beim Heranwachsen geleitet hatten, und konnte nichts mit ihnen anfangen. Ich tauchte in die romantische Literatur ein, die ich verschmäht hatte, als meine Mutter sie mir mit harter Hand hatte aufzwingen wollen, und dabei wurde mir bewusst, dass die unbesiegbare Kraft, die diese Welt bewegt, nicht aus glücklicher, sondern aus verhinderter Liebe erwächst. Als meine musikalischen Neigungen ins Wanken gerieten, entdeckte ich, dass ich alt und rückständig war, und öffnete mein Herz den Wonnen des Zufalls.
    Ich frage mich, wie ich diesem ständigen Taumel erliegen konnte, den ich selbst provozierte und fürchtete. Ich schwebte zwischen wandernden Wolken und führte, in der vergeblichen Hoffnung herauszufinden, wer ich war, vor dem Spiegel Selbstgespräche. Mein Wahn ging so weit, dass ich bei einer Studentendemonstration, als Steine und Flaschen flogen, Kraft aus meiner Schwäche ziehen musste, um nicht mit einem Schild vorneweg zu stürmen, das meine Wahrheit ausposaunte: Ich bin verrückt vor Liebe.
    Betäubt von der erbarmungslosen Erinnerung an die schlafende Delgadina veränderte ich ohne Hintergedanken den Stil meiner sonntäglichen Glossen. Worüber auch immer, ich schrieb für die Kleine, lachte oder weinte für sie, und mit jedem Wort verging mein Leben. Statt in dem traditionell feuilletonisti-schen Stil, den die Glossen immer gehabt hatten, schrieb ich sie jetzt wie Liebesbriefe, die jeder sich zu Eigen machen konnte. Ich schlug in der Redaktion vor, dass der Text nicht gesetzt, sondern in meiner florentinischen Handschrift veröffentlicht würde. Der Chefredakteur hielt das, klar, für einen weiteren Anfall von seniler Eitelkeit, doch der Direktor überzeugte ihn mit einem Satz, der noch heute in der Redaktion die Runde macht:
    »Irren Sie sich nicht: Die harmlosen Verrückten sind der Zukunft voraus.«
    Die Öffentlichkeit reagierte sofort, enthusiastische Leserbriefe von Verliebten häuften sich. Manche meiner Texte wurden im Radio mit der Dringlichkeit letzter Nachrichten verlesen, man fertigte Abschriften an, und die wurden mit Kohlepapier oder maschinell vervielfältigt und wie Schmuggelzigaretten an den Ecken der Calle San Blas verkauft. Von Anfang an war klar, dass die Glossen meinem Verlangen gehorchten, mich auszusprechen, doch ich gewöhnte mich daran, dies beim Schreiben zu reflektieren, immer mit der Stimme eines neunzigjährigen Mannes, der nicht gelernt hat, wie ein Greis zu denken. Die intellektuelle Gemeinde zeigte sich, wie es häufig der Fall ist, ängstlich und gespalten, und sogar selbstberufene Graphologen ergingen sich in Kontroversen über die Analysen meiner Schrift. Damit sorgten sie dafür, dass sich die Geister teilten, heizten die Polemik an, und die Nostalgie wurde zur Mode.
    Noch vor Jahresende hatte ich mit Rosa Cabarcas abgesprochen, den elektrischen Fächer, die Toilettenartikel und das, was ich fürderhin anschleppen würde, um das Zimmer wohnlich zu machen, dort zu lassen. Ich kam um zehn Uhr, hatte immer etwas Neues für die Kleine oder für unser beider Vergnügen dabei und verbrachte einige Minuten damit, das versteckte Arsenal herauszuholen und die Bühne für unsere Nächte aufzubauen. Bevor ich ging, nie später als fünf Uhr morgens, schloss ich alles wieder ein. Das Zimmer blieb dann so karg zurück, wie es ursprünglich für die tristen Liebesspiele zufälliger Kunden gewesen war. Eines Morgens hörte ich, dass Marcos Pérez, der beliebteste Radiosprecher am Vormittag, beschlossen hatte, meinen Sonntagstext in seiner Nachrichtensendung am Montag zu verlesen. Als ich des Schwindelgefühls Herr geworden war, sagte ich erschüttert: Du

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