Erinnerung Des Herzens
und nahm den Weg zum Gästehaus. Sie war noch nicht zu einem Gespräch mit Eve bereit. Sie brauchte noch ein wenig mehr Zeit und Ruhe.
Als sie aus dem Wagen gestiegen war, ging sie in den Garten. Hinter ihr wehte ein Vorhang durchs offene Fenster und glitt dann wieder zurück.
Sie setzte sich auf eine der steinernen Gartenbänke und ließ ihre Gedanken schweifen. Mit geschlossenen Augen nahm sie die Laute und Düfte des Gartens auf. Das Summen der Bienen, das Rascheln der Vögel im Laub, den Duft von Oleander, Jasmin und Flieder, vermischt mit dem schweren Geruch frisch gegossener Erde.
Schon immer hatte sie Blumen geliebt. In den Jahren, in denen sie in Manhattan gelebt hatte, hatte sie im Frühling immer Geranien aufs Fensterbrett gestellt. Vielleicht hatte sie diese Liebe zu Blumen, dieses Bedürfnis nach ihnen von Eve geerbt. Aber darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken.
Mit der Zeit wurde sie ruhiger. Sie fing an, mit der Brosche zu spielen, die sie heute früh an ihre Jacke gesteckt hatte. Die Brosche, die ihre Mutter, die einzige Mutter, die sie gekannt hatte, ihr vermacht hatte. Gerechtigkeit. Ihre beiden Eltern hatten ihr ihr Leben gewidmet.
Sie hatte so viele Erinnerungen an sie. An die Gute-Nacht- Geschichten, die sie ihr erzählt hatten. An das Weihnachtsfest, an dem sie ihr das funkelnde Zweirad mit dem weißen Plastikkorb vor der Lenkstange geschenkt hatten. Und an ihren Kummer und ihre Ratlosigkeit, als die beiden Menschen, die sie am meisten liebte und von denen sie am meisten abhängig war, sich scheiden ließen. Daran, wie sie sie trotz allem gemeinsam während ihrer Schwangerschaft unterstützt hatten. Daran, wie stolz sie auf Brandon gewesen waren, wie sie ihr geholfen hatten, ihre Ausbildung abzuschließen. Und daran, wie schmerzlich es gewesen war und immer noch war, sie beide zu verlieren.
Nichts konnte ihre Erinnerungen, ihre Gefühle für sie auslöschen. Vielleicht hatte sie davor die größte Angst gehabt. Angst davor, dass ihre Bindung an die Menschen, die sie aufgezogen hatten, irgendwie gelockert werden würde, wenn sie wusste, unter welchen Umständen sie auf die Welt gekommen war. Aber das geschah offensichtlich nicht. Sie fühlte sich stärker, als sie wieder aufstand. Was auch noch zur Sprache kommen mochte zwischen ihr und Eve, was auch geschehen mochte, nichts konnte diese Bindung lösen.
Sie würde immer Julia Summers bleiben.
Jetzt war es an der Zeit, sich mit dem Rest ihrer Herkunft auseinanderzusetzen.
Sie ging zum Gästehaus zurück. Eve könnte dorthin kommen, damit sie vollkommen ungestört wären. Sie hielt vor der Tür an, um die Schlüssel hervorzukramen. Wann würde sie es endlich lernen, sie nicht so nachlässig in die Tasche zu werfen? Als sie sie gefunden hatte, seufzte sie zufrieden. In ihrem Kopf entstand langsam ein Plan, als sie die Tür aufschloss.
Sie würde sich zuerst ein Glas Weißwein gönnen, dann einen leichten Salat essen und dann erst Eve anrufen. Anschließend konnte sie Paul anrufen. Sie konnte ihm alles erzählen, weil sie genau wusste, er würde ihr helfen, damit fertigzuwerden.
Vielleicht konnten sie mit Brandon übers Wochenende fortfahren, um zu entspannen, einfach zusammenzusein. Es wäre bestimmt heilsam, einen gewissen Abstand zu Eve zu gewinnen. Sie warf ihre Aktentasche auf einen Stuhl und wollte in die Küche gehen. In diesem Augenblick entdeckte sie sie.
Julia erstarrte. Sie konnte nicht einmal schreien, denn es ist nicht möglich zu schreien, wenn man aufgehört hat zu atmen. Vage schoss ihr durch den Sinn, dass es sich um ein Spiel handeln müsse. Sicher würde jeden Augenblick der Vorhang fallen, und dann würde Eve lächeln - ihr aufblitzendes, einmaliges Lächeln - und sich verbeugen.
Aber sie lächelte nicht, und sie stand auch nicht auf. Sie lag auf dem Boden, irgendwie seltsam auf der einen Seite. Ihr bleiches Gesicht ruhte auf einem der ausgestreckten Arme, als hätte sie sich für ein Nickerchen hingelegt. Aber die Augen waren geöffnet. Groß und starr.
Auf den hübschen Teppich vor dem Kamin tropfte Blut aus ihrer Kopfwunde.
»Eve.« Stolpernd ging Julia zu ihr hin, kniete sich nieder und nahm Eves kalte Hand in ihre. »Eve, nein.« Verzweifelt versuchte sie den schlaffen Körper aufzurichten. Blut tropfte auf ihr T-Shirt, verschmierte ihre Jacke.
Dann schrie sie.
Bei ihrem wilden Lauf zum Telefon stolperte sie. Noch völlig benommen von dem Schock, bückte sie sich und nahm das Schüreisen aus
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