Erinnerung Des Herzens
leid.«
»Danach bin ich oft von zu Hause fortgelaufen«, fuhr Nina fort. Der feste Griff von Julias Hand tröstete sie offensichtlich. »Die ersten Male kehrte ich von selber wieder zurück.« Sie lächelte matt. »Wohin hätte ich gehen sollen? Später haben sie mich aufgegriffen und zurückgebracht.«
»Und Ihre Mutter?«
»Sie glaubte mir nicht. Wollte mir nicht glauben. Es hätte ihr nicht gepasst, dass ihre Tochter ihre Rivalin war.«
»Das ist ungeheuerlich.«
»So ist die Wirklichkeit. Einzelheiten sind nicht weiter wichtig«, fuhr sie fort. »Schließlich lief ich zum letzten Mal davon. Wenn man mich nach meinem Alter fragte, log ich, und so fand ich einen Job als Cocktailserviererin und arbeitete mich zur Managerin hoch.« Sie sprach jetzt schneller, als wäre das Schlimmste schon gesagt. »Meine allzu frühen Erfahrungen hatten mich gelehrt, mich ganz auf die Arbeit zu konzentrieren. Keine Verabredungen, keine Störungen. Dann machte ich einen Fehler. Ich verliebte mich. Ich war schon fast dreißig, und es erwischte mich schwer.«
Tränen schienen in ihren Augen zu glitzern, aber sie senkte rasch die Lider und führte das Glas an die Lippen. »Er war wunderbar zu mir, großzügig, rücksichtsvoll, sanft. Er wollte mich heiraten, aber ich ließ es zu, dass meine Vergangenheit diesen Traum für uns beide vernichtete. Eines Abends verließ er mein Apartment, zornig darüber, dass ich ihm mein Jawort nicht geben wollte. Und dann kam er bei einem Autounfall ums Leben.«
Sie löste ihre Hand aus der Julias. »Ich brach zusammen. Versuchte, Selbstmord zu begehen. So begegnete ich Eve. Sie arbeitete gerade an ihrer Rolle für Darkest at Dawn. Ich hatte meinen- Job aufgegeben, aber nicht genügend Tabletten genommen und lag zur Beobachtung im Krankenhaus. Sie redete mit mir, hörte mir zu. Anfangs mag es nichts weiter gewesen sein als das Interesse einer Schauspielerin an einer Charakterrolle, aber sie kam wieder. Ich habe mich oft gefragt, warum sie wiedergekommen ist. Was mag sie in mir gesehen haben? Sie fragte mich, ob ich mein Leben mit Selbstmitleid verbringen oder etwas daraus machen wollte. Ich schrie sie an, verfluchte sie. Sie gab mir ihre Nummer und sagte, ich sollte sie anrufen, wenn ich mich entschlossen hätte, etwas aus mir zu machen. Dann ging sie, in ihrer unnachahmlichen Art, die sagt: Geh meinetwegen zur Hölle. Schließlich rief ich sie an. Sie gab mir einen Job, ein Zuhause und mein Leben.« Nina leerte ihr Glas. »Und deshalb miete ich Inseln für sie und tue alles, was sie von mir verlangt.«
Noch Stunden später war Julia hellwach. Die Geschichte, die Nina ihr erzählt hatte, ging ihr im Kopf herum. Eve Benedicts Persönlichkeit war außerordentlich vielschichtig. Wie viele Menschen gab es, die aktiv Anteil nahmen an der Tragödie eines Fremden, ihm neue Hoffnung gaben? Nicht nur durch das Ausschreiben eines Schecks. Das war leicht, wenn man genügend Geld hatte. Nicht durch schöne Worte. Worte kosteten nichts. Sondern durch echtes Mitempfinden.
Julias Engagement an dem Buch hatte neue Nahrung erhalten. Sie wollte diese Geschichte nicht nur erzählen, sie musste sie erzählen.
Draußen wurde es kühl. Wind kam auf, er war erfüllt vom Duft der Rosen im Garten und rüttelte an den Bäumen. Irgendwo schrie die Pfauhenne. Obwohl Julia den Laut inzwischen kannte, zuckte sie zusammen. Sie war zu unruhig, um schlafen zu gehen oder noch zu arbeiten. Sie zog sich eine Jacke über und ging nach draußen.
Der Mond schien. Und Stille herrschte, diese wunderbare Stille, die sie schätzen gelernt hatte nach den Jahren in Manhattan. Sie konnte hören, wie der Wind durch die Baumkronen strich. Wie immer die Luftqualität in Los Angeles sein mochte, hier war jeder Atemzug eine Wohltat.
Sie kam an dem Tisch vorbei, an dem sie an jenem Nachmittag mit Paul Winthrop gesessen hatte. Es war merkwürdig, dachte sie, dass sie sich so lange miteinander unterhalten hatten und einander jetzt doch kein bisschen besser kannten als zuvor. Es war ihre Aufgabe, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen, soweit es Eve betraf. Sie glaubte mit Sicherheit, dass er der kleine Junge gewesen war, über den Eve mit Brandon geredet hatte. Der kleine Junge, der Petits fours geliebt hatte. Es fiel ihr nicht leicht, sich Paul als Kind vorzustellen, das auf einen Leckerbissen wartete.
Was für eine Mutter mochte Eve Benedict gewesen sein? Julia schürzte die Lippen, als sie darüber nachdachte. Diesen Aspekt musste sie
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