Erinnerung Des Herzens
blitzten amüsiert auf, als er wieder einen Bissen nahm. »Nein. Wenn ich ins Filmgeschäft gehen sollte, dann nur als Regisseur. Ich glaube, es muss befriedigend sein, anderen Leuten zu sagen, was sie tun sollen.«
Eve entschloß sich, keinen Kaffee zu kochen. Sie nahm eine Flasche Saft aus dem Kühlschrank und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. Ihre Absicht, Rory etwas zu essen hinaufzubringen, als Auftakt für ein kleines Gerangel am Nachmittag, hatte sie völlig vergessen. »Wie alt bist du?«
»Zehn. Wie alt sind Sie?«
»Älter.« Sie nahm sich Erdnußbutter und Marmelade, und dabei fiel ihr ein, dass sie in dem Monat, bevor sie Charlie Gray kennengelernt hatte, von Sandwiches und Erdnußbutter und Marmelade und Fertigsuppen gelebt hatte. »Was gefällt dir am besten in Kalifornien?«
»Die Sonne. Es regnet viel in London.«
»Ja, das habe ich gehört.«
»Haben Sie schon immer hier gelebt?«
»Nein, obwohl es mir manchmal so vorkommt.« Sie nahm einen großen Schluck Saft. »Paul, erzähl mir, was dir in deiner letzten Schule nicht gefallen hat.«
»Die Schuluniformen«, erwiderte er sofort. »Ich hasse Uniformen. Es ist so, man soll nicht nur gleich aussehen, man soll auch gleich denken.«
Diese Antwort schockierte sie ziemlich, deshalb setzte sie die Flasche schnell ab. »Bist du sicher, dass du zehn bist?« Achselzuckend steckte er den Rest des Brotes in den Mund. »Ich bin fast zehn. Und ich bin frühreif«, erklärte er so nüchtern, dass sie einen aufsteigenden Lachreiz unterdrückte. »Und ich stelle zu viele Fragen.«
Eve spürte, dass hinter seiner sorgsam errichteten Fassade von Selbstbewußtsein und Unabhängigkeit ein einsamer, kleiner Junge steckte. Ein Fisch auf dem Trockenen, dachte sie und hätte ihm am liebsten zärtlich das Haar zerwühlt. »Wenn die Leute sagen, dass du zu viele Fragen stellst, dann heißt das nichts anderes, als dass sie die Antworten nicht wissen.«
Er schaute sie lange und forschend an. Dann lächelte er und wurde plötzlich zu einem fast zehn Jahre alten Jungen, dem ein Zahn fehlte. »Ich weiß. Und es macht sie verrückt, wenn man trotzdem weiter fragt.«
Diesmal unterdrückte sie ihr Verlangen, ihm durchs Haar zu fahren, nicht mehr. Sein Grinsen hatte ihr Mut gemacht. »Du wirst es noch weit bringen, mein Junge. Aber fürs erste: Was hältst du von einem Strandspaziergang?«
Er starrte sie volle dreißig Sekunden lang an. Eve hätte ihren letzten Dollar darauf verwetten können, dass Rorys Freundinnen noch nie Zeit für ihn geopfert hatten. Und genauso sicher wusste sie, dass Paul Winthrop sich verzweifelt einen Freund wünschte.
»Okay.« Er malte mit dem Finger Muster auf die beschlagene Pepsiflasche. »Wenn Sie wollen.« Er bemühte sich, nicht allzu interessiert zu wirken.
»Gut.« Ihr ging es ganz genauso. Sie stand langsam auf. »Ich will mich nur eben umziehen.«
»Wir gingen zwei Stunden lang spazieren.« Eve lächelte, ihre Zigarette lag, bis zum Filter heruntergebrannt, unbeachtet im Aschenbecher. »Wir bauten sogar Sandburgen. Es war einer der schönsten Nachmittage in meinem Leben. Als wir heimkamen, war Rory wach, und ich war völlig vernarrt in seinen Sohn.«
»Und Paul?« fragte Julia ruhig. Sie sah den einsamen kleinen Jungen deutlich vor sich, der sich an einem Samstagnachmittag allein in der Küche ein Sandwich machte.
»Oh, er war vorsichtiger als ich. Später erst wurde mir klar, dass er glaubte, ich benutzte ihn, um seinen Vater zu bekommen.« Eve rückte unruhig auf ihrem Sessel herum und nahm sich eine neue Zigarette. »Wer hätte ihn deswegen tadeln können? Rory war ein sehr begehrenswerter Mann, erfolgreich und wohlhabend, durch seine eigene Arbeit und auf Grund seines ererbten Vermögens.«
»Noch bevor der Film, an dem Sie arbeiteten, fertig war, haben Sie und Rory Winthrop geheiratet.«
»Genau einen Monat nach diesem Samstag in Malibu.« Eve rauchte schweigend und schaute zu dem Orangenhain hinüber. Dann sagte sie: »Ich gebe zu, dass ich wie verrückt hinter ihm her war. Der Mann hatte kaum eine Chance. Romanzen waren nun einmal seine Schwäche. Das nutzte ich aus. Ich wollte ihn heiraten, ich wünschte mir eine richtige Familie. Ich hatte meine Gründe dafür.«
»Was für Gründe?«
Eve wandte ihren Blick wieder Julia zu und lächelte. »Sagen wir fürs erste, dass Paul einer meiner ganz entscheidenden Gründe war. Das ist die Wahrheit, und ich habe nicht die Absicht zu lügen. Außerdem glaubte ich zu jener
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