Erinnerungen der Nacht
überschnappst.“
Roland warf ihm einen finsteren Blick zu, ging um die Haube des Autos herum und setzte sich auf den Beifahrersitz. Er hatte nicht vor, sich neben Rhiannon auf die Rückbank zu setzen, auch wenn sein ganzer Körper sich danach sehnte, in ihrer Nähe zu sein. Er musste sich auf Jamey konzentrieren. Seine aufgewühlte Seelensuche musste warten, bis der Junge wieder in Sicherheit war.
Rhiannon verabscheute sich selbst dafür, dass sie immer noch ein so unstillbares Verlangen nach einem Mann empfand, der sie wieder und immer wieder abgewiesen hatte. Und doch hatte sie etwas in seinen Augen gesehen, etwas Neues.
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Da bildete sie sich etwas ein, mehr nicht. Der Gedanke, dass sie ihn verlassen, ihn nie wiedersehen würde, erfüllte sie mit einer so allumfassenden Trostlosigkeit, dass sie sich fragte, wie sie sie nur ertragen sollte. Jetzt schon riss ihr allein der Gedanke daran eine neue Wunde in ihr ohnehin schon blutendes Herz. Dort wurde er eins mit dem Schmerz, den sie wegen Pandora empfand, und der Sorge um sie. Sollte ihr denn gar nichts auf Erden bleiben?
Als das Benzin knapp wurde, steuerte Eric eine Tankstelle an. Er und Tamara stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten. Roland sprang ebenfalls hinaus; Rhiannon sah ihn zu einem Münzfernsprecher gehen. Er hatte während der ganzen Fahrt kaum ein Wort zu ihr gesagt, aber sie hatte seinen Blick gespürt, und wenn sie aufschaute, sah sie direkt in seine zärtlichen Augen. Er wich ihren Blicken nicht aus. Er ließ sie tief in seine Seele sehen, damit sie verstand, was ihn umtrieb. Leider entdeckte sie nur Elend, Reue und Verwirrung. Das war ihr keine Hilfe.
Einen Augenblick später stieg er wieder in das Auto ein, drehte sich zu ihr um und legte einen Ellbogen auf die Sitzlehne. „Ich habe den Tierarzt angerufen. Er sagt, Pandora kommt durch.“
Rhiannon war verblüfft und fühlte sich vor Erleichterung fast überwältigt. „Es geht ihr gut? Sie kommt wirklich wieder auf die Beine?“
Roland nickte. „Sie hinkt vielleicht, aber ihre Genesung geht gut voran, und er konnte ihr Bein retten.“
Rhiannon schloss die Augen und ließ die Luft in einem Zug aus den Lungen entweichen. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie den zufriedenen Ausdruck in seinem Gesicht. „Ich nehme an, ich bin dir zu Dank verpflichtet.“
Er schüttelte hastig den Kopf. „Du schuldest mir gar nichts. Ich wollte nur, dass der besorgte Blick aus deinen Augen verschwindet.“
Sie spürte einen Kloß in der Kehle. „Warum?“
„Warum? Was meinst du damit, warum? Weil ich dich mag, Rhiannon. Wenn ich sehe, dass du leidest, leide ich eben auch.“
Sie blinzelte die heißen Tränen, die ihr in die Augen schossen, hastig mit den Lidern weg. Um sich zu beruhigen, biss sie sich auf die Lippen und zwang sich, gleichmäßig zu atmen, nicht keuchend und abgehackt. Hatte er gesagt, dass er sie mochte? Sie wollte nicht nachhaken. Noch eine Gelegenheit, sie abzuweisen, würde sie ihm nicht geben.
Und doch erfüllte eine irre und kindische Hoffnung ihr Herz, obwohl sie sich alle Mühe gab, sie zu unterdrücken.
Tamara kam mit Eric zum Auto zurück, und weiter ging die Fahrt in die Nacht hinein. Der Morgen war aber noch in weiter Ferne, als sie in ein kleines Dörfchen im Schatten der französischen Alpen gelangten und Tamara hektisch Rhiannons Hand ergriff. „Das ist es“, sagte sie beschwörend. „Das habe ich gesehen.“
Eric erstarrte am Lenkrad. „Bist du sicher, Tamara?“
„Ja.“
Rhiannon fuhr sich über die Lippen und vergaß ihre Pein in Erwartung der Konfrontation, die offenbar hier stattfinden würde. Ein leichtes Gefühl des Unbehagens erfüllte sie mit einem Kribbeln im Nacken und ließ sie erschauern.
„Wir sollten das Auto parken“, sagte Roland mit selbstbewusster und ruhiger Stimme. „Wir gehen zu Fuß weiter und suchen nach Luciens Wagen. Wir können Dorfbewohner, denen wir begegnen, nach dem schwarzen Auto fragen und ihnen Lucien und Jamey beschreiben, falls sie sie gesehen haben.“
„Oder wir fragen einfach Lucien selbst, wo er steckt. Ich bin ganz sicher, er will, dass wir ihn finden.“
Roland sah Rhiannon an. „Aber dann wäre er gewarnt.“
„Das ist er schon, Roland. Er weiß, dass wir kommen“, sagte sie langsam.
„Aber nicht, wann genau wir eintreffen.“
„Den exakten Zeitpunkt kennt er nicht, nein. Aber er weiß, es wird nachts sein. Und er dürfte allein anhand der Strecke,
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