Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
den Botschaften der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, den Goethe-Instituten und kirchlichen Organisationen in den betreffenden Ländern, die mir wertvolle Kontakte ermöglichen und mir auch sonst in jeder Hinsicht behilflich sind.
In der Republik Südafrika komme ich freilich in eine höchst angespannte politische Situation, strebt doch die Auseinandersetzung um die Apartheid ihrem Höhepunkt zu. Dass es sich bei dem perfekt ins kapitalistische Wirtschaftssystem eingefügten Sklavenhandel und dem nachfolgenden Kolonialimperialismus des Westens um typische negative Folgeerscheinungen des modernen Paradigmas handelt, mag noch offenkundig sein. Dass es sich aber bei der – erst nach dem Wahlsieg der Nationalpartei 1948 durch mehrere Gesetze eingeführten und mit großräumigen Zwangsumsiedlungen verbundenen – südafrikanischen Apartheid = Rassentrennung zwischen Weißen, Schwarzen und »Farbigen« (bis zum Verbot der Ehe, gar des Geschlechtsverkehrs) weiterhin um Ausläufer des modernen Paradigmas handelt, ist uns in Europa lange zu wenig bewusst. Was vor 1914 kaum viel Aufsehen gemacht hätte, was zwischen den Weltkriegen schlicht als Faschismus bezeichnet worden wäre, wurde nach 1945 nun doch – ein weiteres Symptom des Paradigmenwechsels zur Nachmoderne! – von immer mehr Menschen auch weißer Hautfarbe als absolut untragbar angesehen und führte zu mehreren Verurteilungen durch die UNO sowie schon 1961 zum Ausschluss Südafrikas aus dem British Commonwealth.
Zwar sagt man mir in Südafrika manchmal beschwichtigend, in Afrika, Asien oder Lateinamerika würde man kaum eine Großstadt finden, die im Gefolge von Verarmung, Landflucht und Urbanisierung nicht durch zwanghaft akkumuliertes Elend gezeichnet wäre. Aber: in Südafrika geht es nicht bloß um diese Art von Elend. In Südafrika geht es um ein mit typisch modernen Mitteln effektiv organisiertes, gezielt in Zonen verwaltetes und raffiniert von der Wirtschaft ausgebeutetes Massenelend . Apartheid ist ein wohldurchdachtes System von Gesetzen und Maßnahmen, das auf einer angeblich wissenschaftlich begründeten und sozialpolitisch gerechtfertigten Grundhaltung beruht, wie man sie ähnlich lange in den USA und Israel (gegenüber den Palästinensern) antrifft: die Grundhaltung rassischer Überlegenheit, weißer Vorurteile und weißen Egoismus.
Ich muss gestehen, dass auch ich die Situation in Südafrika früher nicht genügend ernst genommen hatte. Bevor ich im Land bin, besonders in den schwarzen Elendsstädten wie Mamelodi (bei Pretoria) oder Soweto (bei Johannesburg), welche die allermeisten weißen Südafrikaner ebenso meiden wie Israelis die Palästinensergebiete, teile ich die Meinung, als Theologe müsse man Weißen wie Schwarzen schlicht Gewaltlosigkeit verkünden. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Wer als Theologe und Christ für Versöhnung und Frieden plädiert, darf die völlig unterschiedlichen Ausgangsbedingungen von Weißen und Schwarzen nicht übersehen. Wem ein Löwe an die Gurgel fährt, dem darf man nicht Gewaltlosigkeit predigen wollen. Und wer für Einheit, Versöhnung und Frieden eintritt, muss bedenken: Es gibt keine Einheit von Unterdrückten und Unterdrückern, Ausbeutern und Ausgebeuteten; keine Versöhnung zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gut und Böse.
In meinen Vorträgen beziehe ich immer sehr gründlich und klar zur kritischen Lage in der katholischen Kirche Stellung, aber auch immer deutlicher zur kritischen Lage in Südafrika. Es sorgt ziemlich für Aufsehen, dass ich in der Justice Hall des Ökumenischen Zentrums von Durban sehr deutliche Worte finde: »Rebel theologian Küng puts a challenge to SA (South Africa)«, lautete die Schlagzeile in »Weekly Mail« vom 7. Februar 1986. Die Zeitung berichtet von meinen Erfahrungen in den schwarzen Townships und davon, wie schockiert ich von den dortigen Zuständen bin: »Kein menschliches Wesen sollte so leben müssen, wie diese Leute leben. Es ist ein großer Schock. Die Apartheid muss weg. Sie ist absolut und grundsätzlich inakzeptabel.« Allerdings wird auch betont, dass ich Gewalt ebenso aufseiten der Schwarzen verurteile: »Wenn Gewalt falsch ist, dann muss ich dagegen protestieren, woher immer sie kommt. Und es ist leichter für einen Marxisten als für einen Christen, Gewalt zu rechtfertigen und zu praktizieren. Und ich kann nicht glauben, dass man sich auf Jesus von Nazaret als eine gewaltbereite Person beziehen kann.«
Im Verlauf meiner Reise
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