Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
erlangen, in den kosmischen Urgrund Brahman einzugehen und nicht mehr inkarniert zu werden.
Wie immer: westliche Touristen, Geschäftsleute, Politiker müssten, wenn sie Inder wirklich verstehen wollen, nicht nur über Begrüßungs-, Essens- und Umgangsformen orientiert sein, sondern auch über die Tiefenstruktur indischen Lebens, Glaubens und Handelns. Ich gestehe, dass mir der Zugang zum Hinduismus erheblich schwerer fiel als der zum Judentum und zum Islam. Zwar habe ich aus meinen eigenen Erfahrungen mit dem »Volkskatholizismus« Verständnis für das, was man »Volkshinduismus« nennen könnte: die vielen Götter, Bilder und Statuen samt Öllämpchen, Blumenschmuck, Räucherwerk, Weihwasser, Musik, Prozessionen, Feste …, aber so manches an dieser Religion bleibt mir bis heute fremd. So beispielsweise jene Frage, die ich mir schon sehr früh stellte:
Heilige Kühe?
»Heilige Kuh« ist für uns im Westen sprichwörtlicher Ausdruck für etwas Unantastbares, etwas was nicht angegriffen, etwas Unverständliches, woran nicht gerüttelt werden darf – jedenfalls nichts Vernünftiges, rational zu Bejahendes. Der Ausdruck geht bekanntlich auf die indische Vorstellung von der Kuh als heiligem Tier, ja geradezu göttlichem Wesen zurück – für den Durchschnittseuropäer schwierig nachzuvollziehen. Auch mich berührt es anfänglich seltsam, wenn nicht peinlich, als ich (es war meiner Erinnerung nach auf meiner ersten Indienreise 1964 in Jaipur im »Palast der Winde«) einen durchaus gut gebildeten Inder ganz selbstverständlich von der Kuh als vergöttlichtem Wesen sprechen höre und er dies auf meine Nachfrage hin auch noch für sich persönlich energisch bestätigt.
Später lerne ich, dass sich schon in Indiens alten Heiligen Schriften – etwa anderthalb Jahrtausende v. Chr. – die Aussage findet, die Kuh, Verkörperung der Mutter Erde und Quelle der Milch und neuen Lebens, solle nicht getötet werden. Überhaupt wird in der indischen Tradition das Gebot des Nicht-Verletzens (»a-himsa«) sehr früh auch auf Tiere ausgedehnt; entsprechend ernähren sich viele gläubige Hindus vegetarisch. Besonders konsequent gilt dies in den indischen Reformbewegungen Buddhismus und Jainismus. Aber die Kuh genießt seit jeher besondere Verehrung. Nicht von ungefähr wird Krishna, die überaus populäre Erscheinungsform des Gottes Vishnu, als Kuhhirte dargestellt. Viele Bedürfnisse des täglichen Lebens werden ja auch von einer Kuh befriedigt: Milch und Butter als Grundnahrungsmittel, Kuhdung als Brennstoff und Baumaterial, das Fell zur Bekleidung, Butterschmalz als Brennstoff für Lampen und als rituelle Opferspeise, Milch und Joghurt als wichtiger Bestandteil religiöser Zeremonien. So wird die Kuh im Lauf einer jahrhundertelangen Entwicklung immer mehr in den Mittelpunkt der religiösen Vorstellung gerückt bis hin zum Verbot der Kuhtötung. Die Kuh dient Indern geradezu als Paradebeispiel für die Gewaltlosigkeit . Sogar zu Revolten kann es führen, wenn Behörden die Kühe von den Straßen und Plätzen fernhalten wollen.
Umgekehrt gilt für manche westliche Kolonialbeamte, Politiker und Gelehrte: Für sie ist die »heilige Kuh« ein Paradebeispiel für eine rückständige Religion , die große Bevölkerungsmassen zu irrationalen und ökonomisch kontraproduktiven Verhaltensformen und Institutionen (bis hin zu Heimen für die Pflege alter und kranker Kühe) zu motivieren vermag. Später ist es für Marxisten und Maoisten ein Beleg für ihre These, dass Religion nichts als schierer Aberglaube sei.
Mit der Wende des Westens zur Ökologie zeichnet sich nun freilich ein besseres gegenseitiges Verstehen ab. Viele Inder sehen die Kuh heutzutage als unverletzliches Symbol von Mütterlichkeit und kreatürlicher Sanftmut, die zwar nicht zu vergöttlichen, aber doch – so selbst Mahatma Gandhi in seiner Schrift »How to Serve the Cow« – zu verehren sei. Andererseits haben wir im Westen gemerkt, dass eine sozial-ökonomische und eine religiös-ökologische Betrachtungsweise sich durchaus ergänzen und stützen können. So verbindet denn auch die Weltethos-Erklärung von 1993 die westliche Hochschätzung der menschlichen Person mit der indischen Hochschätzung der übrigen Lebewesen. »Die menschliche Person ist unendlich kostbar und unbedingt zu schützen. Aber auch das Leben der Tiere und Pflanzen, die mit uns diesen Planeten bewohnen, verdient Schutz, Schonung und Pflege. Hemmungslose Ausbeutung der natürlichen
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