Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Zuflucht zu Gott Befreiung von der Enge und Beschränktheit unserer Lage« (»Nostra aetate« Nr. 2).
Im Juli 1971 bin ich erneut für Vorträge in Indien: in Delhi, Bangalore und Madras. Und ständig bemühe ich mich, den Hinduismus besser zu verstehen. Im Sommersemester 1981 führe ich zusammen mit Dr. JOHANNES AAGAARD (Universität Aarhus) ein Kompaktseminar durch unter dem Titel »Heil aus Indien?« über »neue religiöse Bewegungen im Westen« (z. B. Bhagvan). Am meisten lerne ich für das innere Verständnis indischen Denkens und der Hindu-Religiosität von meinem Tübinger Kollegen HEINRICH VON STIETENCRON , Ordinarius für Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft, mit dem ich 1982 an der Universität Tübingen vier öffentliche Dialogvorlesungen über Christentum und Hinduismus halte. Aus den kritischen Reaktionen des vielhundertköpfigen Publikums, viele aus der Indologie, merke ich, wie viel vorsichtiger man als christlicher Theologe sein muss, wenn man Kritik statt am Christentum am Hinduismus zu äußern wagt. Vorbereitet habe ich mich auch durch die Werke des großen Vorgängers von Stietencrons, HELMUTH VON GLASENAPP , der ein Jahr vor meiner Ankunft in Tübingen emeritiert worden war und leider schon 1963 verstarb. Aber seine Werke über Hinduismus und Jainismus bleiben neben ERICH FRAUWALLNERS »Geschichte der indischen Philosophie« sowie JAN GONDAS »Religionen Indiens« wegweisend.
Christliche Sannyasin
Wichtig für mein Verständnis indischer Religiosität wurden jene Christen, die sich in Indien selber aktiv um Inkulturation, interreligiösen Dialog und Ökumene bemühen. Schon auf meiner ersten Indienreise 1964 nehme ich in Kalkutta an einer vom belgischen (!) Jesuiten P. FALLON gehaltenen Eucharistiefeier in indischer Form teil. Dass man dabei nicht wie in westlicher Weise kniet oder steht, sondern sitzt, verändert die Atmosphäre des eucharistischen Mahles. Auch wenn man weiß, dass Jesus bei seinem letzten Mahl mit den Seinen zu Tische lag. Natürlich stellen sich bei der Inkulturation schwierige Fragen. Fragen des Ritus: Darf man statt Weizenbrot Reisbrot gebrauchen und statt Wein Traubensaft? Aber auch Fragen des Glaubens: Darf man die Christologie statt in der Sprache der hellenistischen Konzilien in indischen Kategorien zum Ausdruck bringen? Im zentralistischen Rom betrachtet man alle diese Bemühungen mit Misstrauen, nicht selten verdächtigte man sie der Häresie.
Dabei gab es nun christliche Ordensleute, die seit Jahrzehnten in der Art von Sannyasin lebten, von Hindu-Asketen. Sehr überzeugend der englische Benediktiner BEDE GRIFFITHS (1906 – 1993), auch bekannt als Swami Dayananda (Meister »Seligkeit des Mitleids«). Ihn besuche ich in seinem Ashram Shantivanam (Friedenswald) im südindischen Tamil Nadu. Er war schon 1955 nach Indien gekommen und hatte 1968 vom Benediktiner HENRI LE SAUX diesen Ashram übernommen. Das Gespräch mit ihm ist vor allem deshalb fruchtbringend, weil er programmatisch eine Integration des westlich-wissenschaftlichen Denkens und des östlich-spirituellen Denkens anstrebt: Für dieses »integrale Denken« schreibt er ein Dutzend Bücher, darunter einen Kommentar zur Bhagavadgita (»River of Compassion«, 1987), die für die christliche Ashram-Bewegung wegweisend werden.
Mir imponiert Bede Griffiths auch, weil er anders als andere christliche Mystiker mutig und unzweideutig für die Reform der katholischen Kirche Stellung bezieht. Gerade aus indischem Denken und Fühlen heraus wendet er sich gegen Kommandostrukturen, welche die kirchliche Autorität ganz von oben, vom Papst und den Bischöfen, ableiten und die Autorität des priesterlichen Volkes Gottes ignorieren. Papst und Bischöfe seien dem Volk verantwortlich. In seinem Buch »Hochzeit von Ost und West – Hoffnung für die Menschheit« (Neuausgabe Salzburg 2003) schreibt er: »Wir haben heute eine Kirche, die aus unzähligen Sekten besteht, von denen jede für sich den wahren Glauben zu haben beansprucht und die anderen für häretisch hält. Die ökumenische Bewegung hat versucht, diese Teilungen zu überwinden und die Kirche zu einen, doch dafür gibt es wenig Hoffnung, solange man nicht die Suche nach Lehrformeln und nach Rechtssystemen aufgibt und sich wieder auf die intuitive Weisheit der Bibel und der Alten besinnt. Wenn wir uns die christlichen Kirchen und ihre Geschichte heute anschauen, dann kommt sie uns eher als Aufzeichnung menschlicher Sünde als göttlicher
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