Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Mann, der in London lebt, habe ich 1995 von ihr, die damals noch unter Hausarrest stand, einen ausgezeichneten Beitrag zu meinem Sammelband » Ja zum Weltethos – Perspektiven für die Suche nach Orientierung« erhalten: »Für eine Kultur von Frieden und Entwicklung«. Darin betont sie, dass unterschiedliche Völker in menschlichen Grundwerten übereinstimmen müssen.
Mit Sulak bleibe ich in Verbindung. Dreimal im Jahr erhalte ich seine sehr informative Zeitschrift »Seeds of Peace«. Er nimmt auch am Seminar zur Vorbereitung der Weltethos-Erklärung in Tübingen teil und macht mich auf das Ethos im buddhistischen Kanon aufmerksam. Doch zeigt der Buddhismus in Asien ein noch sehr viel weiteres Spektrum, das mit weiteren Paradigmenwechseln zusammenhängt.
Kleines und Großes Fahrzeug
Vom »Kleinen Fahrzeug« (»Hinayana«), das nur für eine Minderheit weltentsagender Mönche und Nonnen Platz bietet, haben sich schon auf dem dritten buddhistischen Konzil 250 v. Chr. jene Mönche abgespalten, welche die Ansicht der Laiengemeinde unterstützen und den Dharma weiterentwickeln wollten.
Zu Beginn unserer Zeitrechnung entwickelt sich daraus das »Große Fahrzeug« (»Mahayana«), das möglichst vielen Menschen die Überfahrt zum Heil ermöglichen will. Über die »Nordroute« (»Seidenstraße«) hat sich dieses schon im 1. Jahrhundert n. Chr. nach Zentralasien und China, im 4. Jahrhundert nach Korea und schließlich im 6. Jahrhundert nach Japan ausgebreitet.
Im Mahayana beansprucht man bis heute, die tieferen Lehren des Buddha zu kennen, die zur »Vollkommenheit der Erkenntnis« (»prajnaparamita«) führen. Dies ist nur möglich mit späteren Sutren, die man ohne viel Aufhebens dem historischen Buddha zuschreibt. Keine Verfälschung, sagen die Anhänger des Mahayana, sondern die Entfaltung der Lehre des Buddha.
Während im Kleinen Fahrzeug das Ideal der mönchische Arhat ist (Paradigma II), der das Heil nur für sich selbst erlangen will, setzt sich im Großen Fahrzeug das Ideal des menschenfreundlichen Heiligen, des Erleuchtungswesens, des Boddhisattva durch (Paradigma III). Dieser sucht nicht für sich den kürzesten Weg zum Nirvana, sondern bemüht sich um die Erlösung anderer, in grenzenlosem Mitleid allen Menschen verpflichtet. Die von Anfang an gegebene Spannung zwischen mönchischer und laikaler Existenz erscheint hier aufgelöst. Eine Laienreligion, die auch Nicht-Mönchen, auch den Frauen, das Erlangen der Erleuchtung verspricht.
Das Diamantfahrzeug: Tibet
Erst im 7./8. Jahrhundert kam der Buddhismus auch ins »Schneeland der wilden Kriege«, nach Tibet. Und hier entwickelte sich in Synthese mit der alten Bön-Religion das tibetische Vajrayana , das » Diamantfahrzeug « (Paradigma IV). Diamant als Symbol des Unzerstörbaren, Absoluten. Das Vajrayana ist erfolgreich nicht zuletzt wegen esoterisch-magischer Praktiken und psychologisierenden Ritualismus.
Das zentralasiatische Hochland Tibet und seine Religion habe ich auf der Informationsreise 1987 zusammen mit Julia Ching und Will Oxtoby kennengelernt. Das Land war seit Langem von China besetzt und der DALAI LAMA geflohen. Diesen treffe ich zum ersten Mal persönlich anlässlich der Verleihung des Leopold-Lucas-Preises an der Universität Tübingen am 16. Juni 1988. Dankbar bin ich ihm besonders, dass er am 4. September 1993 als Erster die Weltethos-Erklärung des Parlaments der Weltreligionen in Chicago unterschrieben hat.
Nachdem Tibet als Drehort für unsere Filmsequenz über den tibetischen Buddhismus nicht zu realisieren war, haben wir uns für das nordindische Dharamsala entschieden, die Exilresidenz des Dalai Lama. So machen wir uns 1997 auf der Filmreise in Indien mit unserer Crew in einem kleinen Bus auf den mühseligen über zehnstündigen Weg über zum Teil miserable Straßen mit Schlaglöchern in diesen kleinen Ort am Fuße des Himalaja. Hier können wir lebendiges buddhistisches Leben filmen: die Morgenandacht im tibetischen Kloster, Kinder in der Klosterschule, Klosterschüler bei der Debatte, Mönche bei einer Hauszeremonie und die kunstvolle Herstellung eines buntfarbigen großen Sandmandalas. In krassem Kontrast dazu freilich der miserable Zustand des Ortes: Überall Unrat und Müll, offenbar ist man hier mit den Massen der Pilger und Exiltibeter überfordert. Die Tage in Dharamsala zehren sichtlich an unseren Kräften.
Aber dann – nach einigen Mühen mit dem Personal – die erneute Begegnung mit dem Dalai Lama
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