Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
Gelassenheit und Selbstvergessenheit zu gelangen, also zu einer wahren inneren Befreiung und zur Erleuchtung. Eine Befreiung, gerade für Katholiken, von kirchlichem Ritualismus, liturgischer Geschäftigkeit und dogmatischer Überfrachtung. Allerdings finden sich diese Übel auch im Buddhismus. Dies stelle ich gerade in Theravada-Ländern fest, wo buddhistische Lehre, Ritus und Verdienstglaube die Meditation verdrängt haben.
Reformen im Buddhismus?
Vor einem hochrangigen Mönch auf seinem Thron in einer für mich unbequemen Sitzhaltung auf dem Boden, ohne ihm die Fußsohlen entgegenzustrecken, ein längeres Gespräch zu führen, empfinde ich nicht gerade als befreiend. Man muss freilich wissen, dass in diesem Land die Füße als schmutzigster Teil des Körpers gelten, weil die Menschen früher (und auf dem Land vielfach noch heute) barfuß gingen; und deshalb soll man wie dem Buddha so auch den Mönchen nicht die Füße entgegenstrecken.
Von daher wird man verstehen, dass eine gebildete Thai-Buddhistin wie SANITSUDA EKACHAI , stellvertretende Redakteurin der »Bangkok Post«, geradezu zu Tränen gerührt ist, als sie am Fernsehen Papst Franziskus am Gründonnerstag 2013 die Füße von jungen Strafgefangenen und sogar einer Frau und Muslimin waschen sieht. Im Leitartikel mit dem Titel: »Papst Franziskus gibt ein Beispiel für alle Religionen« schreibt sie: »Wenn wir ehrlich sein wollen, so wird der Thai-Buddhistische Klerus von denselben Problemen geplagt wie die katholische Kirche. Sogar vielleicht noch schlimmer. Um damit zu beginnen, es ist sozusagen keine Rede von Sexualmissbrauch im Klerus, obwohl das Problem schwerwiegend ist. Es gibt keine Anstrengungen, um die Kommerzialisierung des Buddhismus zu bändigen und die Ausbildung der Mönche zu verbessern; Frauenordination bleibt im Thai-Theravada-Buddhismus illegal. Die Ältesten leben in einem Kokon von materiellem Reichtum und Komfort, während das kirchliche System zutiefst feudal und autokratisch bleibt. Und während die katholische Kirche auf die Kritik durch die Einleitung von Reformen antwortete, hat der Thai-Buddhistische Klerus versucht ein Gesetz zu fördern, das die Medien wegen Verdunkelung seines Images bestraft. Ähnlich wie in der katholischen Kirche verlassen junge Menschen hier Tempel und Mönche. Papst Franziskus hat gezeigt, dass die Rückkehr zu Demut und unterschiedslosem Mitleid eine gewinnbringende Bewegung ist, um den Glauben wiederherzustellen. Hier jedoch gibt es noch kein Zeichen, dass der Klerus Reichtum und Komfort aufgeben will, um den Buddha-Weg der Einfachheit und Selbstlosigkeit einzuschlagen.« (»Bangkok Post«, 3. April 2013)
Am wohl wichtigsten Feiertag im buddhistischen »Tempeljahr«, dem »Visakha-Bucha-Tag«, an welchem des Buddha Geburt, Erleuchtung und Tod (Eingang ins Nirwana) gedacht wird, erscheint ein weiterer Leitartikel der »Bangkok Post« (24. Mai 2013) unter dem Titel »Die Gesellschaft erfährt eine moralische Krise«. Aber dieses Mal ist keine Rede vom Papst. Vielmehr werden die Thai-Gesellschaft, die »feudale Hierarchie« und die vielfach versagenden Mönche Punkt um Punkt mit den ursprünglichen Lehren des Buddha konfrontiert. »Der Buddha lehrte, wie die mentalen Bedingtheiten des Geistes aufzuheben sind, und erklärte, dass jeder Mensch – ungeachtet von Rasse, Klasse, Ethnizität oder Geschlecht – das Potenzial besitzt, spirituelle Befreiung zu erreichen.«
Der buddhistische Beitrag zu einem Weltethos
In den 1990er-Jahren beschäftigt mich vor allem auch die Frage, was der spezifische Beitrag des Buddhismus zu einem Weltethos sein kann. Der Buddhismus fordert ganz entschieden den Einzelnen heraus. Jeder muss selber den Weg gehen. Der Mensch macht sich selbst zu dem, was er ist. Mensch wird man, indem man sich in menschliches Verhalten einübt. Entscheidend ist dabei, das Ich möglichst zu vergessen, sich in Selbstlosigkeit zu üben. In jener Selbstlosigkeit, die Voraussetzung ist, um allen Lebewesen:
– statt Ablehnung und Abgrenzung unbegrenztes Wohlwollen ( maitri ) entgegenzubringen,
– statt Gefühlskälte und Unsensibilität allumfassendes Mitgefühl ( karuna ),
– statt Neid und Eifersucht stille Mitfreude ( mudita ), und schließlich Gelassenheit ( upekkha ). In der Tat, die Menschheit könnte in einer neuen Weltkonstellation mehr Mitgefühl, Friedfertigkeit, Sanftheit, Heiterkeit, Toleranz und Harmonie im Geist des Buddha brauchen.
Eine der klassischen buddhistischen
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