Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
mystisch orientierte Weltsicht kann indes nicht verallgemeinert werden. Das gilt auch für eine spezielle Anthropologie (z. B. die Trias Leib – Seele – Geist) oder Metaphysik (z. B. das Verhältnis Raum, Zeit und höheres Wesen), von der wir uns nicht abhängig machen dürfen. Doch dürfen Religionen in einer solchen Erklärung zum Ausdruck bringen, dass für sie die vorfindbare empirische Welt nicht die letzte, höchste geistige Wirklichkeit und Wahrheit ist.
Umgekehrt aber darf die Weltethos-Erklärung auch nicht zu einer politischen Erklärung werden: Wenn Religionen zu direkt und zu konkret zu weltpolitischen oder wirtschaftspolitischen Fragen wie etwa dem Nahostkonflikt oder der Lösung der Schuldenkrise Stellung nehmen, missachten sie den Unterschied zwischen politischer und ethischer Ebene. Eine solche Erklärung würde leicht in den Parteienstreit und den Strudel der weltpolitischen Diskussion und Konfrontation hineingerissen. Deshalb kann auch keine bestimmte westliche Staats- und Gesellschaftstheorie als Voraussetzung für eine Erklärung angenommen werden. Andererseits aber soll und muss eine Weltethos-Erklärung durchaus politische und wirtschaftliche Relevanz haben und die Bemühung um eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung unterstützen.
Schließlich darf eine Weltethos-Erklärung auch nicht einfach eine Verdoppelung oder Ergänzung der Menschenrechtserklärung sein. Ethos ist mehr als Recht, und eine solche Ethos-Erklärung darf sich nicht der Kritik besonders fernöstlicher Religionen aussetzen, die ein solches Dokument als typisch westlich ablehnen würde. Allerdings soll eine Weltethos-Erklärung die Menschenrechtserklärung der UNO, die so oft ignoriert, verletzt und umgangen wird, ethisch abstützen. Verträge, Gesetze, Abmachungen werden nur dann eingehalten, wenn dahinter der ethische Wille steht, sie auch angesichts ernsthafter Widerstände wirklich einzuhalten.
Aber bei all diesen negativen Abgrenzungen bleibt mir bis gegen Ende des Sommersemesters 1992 unklar, wie man eine solche Erklärung aufbauen solle. Und auf Struktur und Stil kommt ja alles an. Die Struktur soll klar (nicht überkomplex), der Stil allgemein verständlich (keine Fachsprache) sein. Aber woran sich im Aufbau orientieren? An der klassischen Tugendlehre (z. B. Kardinaltugenden)? Das schien mir von Anfang an ein wenig langweilig und zu wenig unserer Zeit angemessen. Oder an bestimmten Problemfeldern, wie dies besonders die Studenten aus unserem Institut wünschen, welche im erwähnten Kolloquium höchst engagiert die jüngere Generation repräsentieren? Dies aber scheint mir angesichts der komplexen Problemfelder der angewandten Ethik – der Sexual- und Eheethik, der Wissenschafts- und Wirtschaftsethik – nur schwer realisiert werden zu können, ganz abgesehen von der sich immer rasanter entwickelnden Bio-, Medizin-, Technik- und Medienethik. Doch wenn man alles überlegt hat, was nicht geht, weiß man noch längst nicht, was geht.
Wie die Weltethos-Erklärung entstand
Ich gehe Schritt um Schritt voran. In einer ersten Phase entwerfe ich zunächst nur eine Präambel , in welcher die ethische Ebene klar von der juristischen und politischen abgehoben wird, ohne in die religiöse aufzusteigen. AnfangJuni 1992 schicke ich sie auch mehreren kompetenten Wissenschaftlernin verschiedenen Weltreligionen zur Stellungnahmezu. Ich habe mein eigenes kleines Konsultationsnetzwerk aufgebaut,das Korrespondenten vonEuropa bis Amerika, von Zentralafrikabis Bangladesch umfasst. Bei Vorträgen in aller Welt 3 werbe ich fürdie Idee und führe zahllose Diskussionenmit Gläubigender verschiedensten Religionen und selbstverständlich auchmit nicht-religiösen Menschen. 4 Diese Präambel wird zu einem ersten Teil ausgearbeitet, der schließlich den Titel trägt »Keine neue Weltordnung ohne ein Weltethos«.
Anschließend werden auch die elementaren ethischen Grundprinzipien geklärt, die für jeden Menschen und jede menschliche Gesellschaft gelten; sie bilden Teil II: Das Humanitätsprinzip: »Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden!« Es wird bestätigt durch das Prinzip der Gegenseitigkeit, wie es sich in der großen Tradition der Religionen als »Goldene Regel« nachweisen lässt; im Deutschen sprichwörtlich: »Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.« Aber wie nun den schwierigen konkreten Teil III gestalten?
Die ethischen Grundforderungen: »Nicht töten (morden), nicht stehlen
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