Erlebte Menschlichkeit: Erinnerungen (Küngs Memoiren) (German Edition)
zahlreicher Vorschläge in manchen Details verbessert. Am 12. Oktober 1992 ist der zweite, verbesserte Entwurf fertig, und am 23. Oktober 1992 kann ich zu meiner großen Erleichterung die von Prof. LEONARD SWIDLER (Philadelphia) angefertigte englische Übersetzung nach Chicago schicken, in der Hoffnung, bis Anfang 1993 die Korrekturen von dort in den Händen zu haben, um den definitiven Text erstellen zu können. Aber dort fehlt es an effizienter Organisation. Erst sehr spät, im Sommer 1993, kommt endlich die definitive Zustimmung aus Chicago, wo der Text noch einmal verbessert worden war. Mehr als 100 Personen aus allen größeren Religionen waren in den Konsultationsprozess einbezogen.
Über die zum Teil heftigen Diskussionen auf dem Parlament der Weltreligionen, an denen 200 Delegierte teilnehmen, habe ich in der »Dokumentation zum Weltethos« (München 2002) berichtet. Darauf kann ich hier verweisen. Die Auffassung der buddhistischen Teilnehmer, dass die Erklärung nicht im Namen Gottes abgegeben werden dürfe, hatte ich von vornherein berücksichtigt. Das von Muslimen eingeforderte Recht auf Selbstverteidigung gilt unbestritten, allerdings ebenso wie die Gleichberechtigung der Frau, die am meisten Kritik hervorruft.
Wie erleichtert bin ich doch, dass die Erklärung am 4. September 1993 von den Delegierten angenommen und in einer Kurzfassung der Gesamtheit der Teilnehmer verkündet wird. Dass ein solches ethisches Konsenspapier trotz aller Unterschiede des Glaubens und der Lehre von so bedeutenden Persönlichkeiten unterzeichnet wurde wie dem Dalai Lama und dem Kardinal von Chicago, dem Vertreter des Weltkirchenrates und einem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, dem Generalsekretär der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden und dem Generaladministrator der Internationalen Bahai-Gemeinde, dem geistigen Oberhaupt der Sikhs in Amritsar und dem Patriarchen des kambodschanischen Buddhismus, einem bedeutenden Rabbiner und einer führenden muslimischen Feministin: dies bedeutet für die Zukunft der Religionen und den Frieden der Welt zweifellos ein vor kurzer Zeit noch kaum zu erwartendes unübersehbares Zeichen der Hoffnung.
Damit hat das Projekt Weltethos definitiv seine »Magna Charta« gefunden, die Voraussetzung für die weitere Arbeit wird. Und dies nur drei Jahre nach Erscheinen von »Projekt Weltethos«!
Die Weltethos-Erklärung wird in der Folge mit vielen Kommentaren in alle großen Weltsprachen und viele kleinere Sprachen übersetzt. Welches sind die langfristigen Aussichten auf eine Realisierung dieser Erklärung? Das weiß natürlich niemand. Fest steht, dass »Weltethos« (»Global Ethic«) nun ein Programmwort geworden ist und sich sehr viele Menschen zu gemeinsamen Prinzipien eines Weltethos bekennen. Fest steht aber auch: Die Erklärung zu einem Weltethos ist noch nicht die Realisierung eines Weltethos. Eine solche Erklärung kann nicht Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck sein. Und es wird von den Bemühungen in den verschiedenen Ländern abhängen, was davon realisiert werden wird. Das Projekt Weltethos ist ein Jahrhundertprojekt! Und schon zwei Jahre später geht es mit dem Projekt einen weiteren entscheidenden Schritt voran.
Die Stiftung Weltethos – ein Geschenk des Himmels (1995)
Das Wochenende versuche ich möglichst in Sabbatruhe zu verbringen. Ich brauche einfach Stille und Bedenkzeit, um gewisse Dinge zu verarbeiten, Probleme zu überlegen und neue Ideen zu bekommen. Ich schätze es deshalb nicht, wenn ich dabei von wildfremden Menschen am Telefon gestört werde. Aber gerade am 1. Mai 1995, am späten Nachmittag des Feiertags, ruft mich ein Unbekannter an, dessen Namen ich nicht genau verstehe, aber es ist ein Graf aus Baden-Baden. Er sagt mir, er habe das Buch »Projekt Weltethos« gelesen und wolle mir bei der Verwirklichung dieser Idee helfen. Ich reagiere freundlich, aber nicht überbegeistert. Denn allzu oft habe ich erlebt, dass enthusiastische Personen mir helfen wollen, aber aufgrund ihrer beschränkten Mittel und Möglichkeiten es gar nicht können oder sich nur interessant machen wollen. So will ich zuerst sicher sein, mit wem ich es zu tun habe. Ich bitte ihn deshalb, mir einen kurzen Brief zu schreiben, in welchem er darlegen solle, wie er mir helfen wolle.
Noch am selben Tag schreibt mir GRAF KARL KONRAD VON DER GROEBEN . Ich lese: »… Mir schwebt eine Stiftung vor, die ich von mir aus mit 3 – 5 Mio DM ausstatten könnte. Das ist
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